Boomtown am Horn von Afrika
Dire Dawa, die zweitgrößte Stadt Äthiopiens, wird von der Regierung in Addis Ababa zum zentralen Verkehrsknotenpunkt Ostafrikas aufgebaut
Dire Dawa, Äthiopien. Vor dem Drahtverhau, der den Flugplatz von Dire Dawa vor terroristischen Angriffen schützen soll, liegt die Bahnlinie Dschibouti-Addis-Abeba.Die Wintersonne scheint vom blauen Himmel, Affen klettern auf den Bäumen und im Flughafengelände herum. Soldaten der äthiopischen Armee, in ihren dunkelblau gemusterten Uniformen, kontrollieren die Papiere der Ein- und Abreisenden.
Im Großraum Dire Dawa entschied sich 1977 das Schicksal des modernen Äthiopiens. In den Jahren nach dem Sturz und der Ermordung des Kaisers Haile Selassie versank das uralte Imperium in politischen Wirren und bürgerkriegsähnlichen Unruhen. Das Land brach auseinander, an seinen Rändern kämpften separatistische Bewegungen gegen die neue rote Zentralmacht in der Hauptstadt.
Während die Streitkräfte der äthiopischen Revolutionsarmee damit beschäftigt waren, den Aufstand in Eritrea zu bekämpfen, waren somalische Divisionen im Osten eingefallen. Syad Barre, der damals, der starke Mann von Mogadischu, hatte sich zum Ziel gesetzt, die innenpolitischen Schwächen des Erzrivalen Äthiopien zu seinem Vorteil zu nutzen.
Ziel des somalischen Angriffes war es, im Rahmen der damals propagierten Groß-Somalia-Ideologie, die Eroberung und Annexion der ostäthiopischen Ogaden-Region, deren Hirtenbevölkerung überwiegend somalisch ist. Zuvor hatte Somalia einen halsbrecherischen außenpolitischen Kurswechsel vollzogen, wie er zur damaligen Hochzeit des Kalten Krieges für ein afrikanisches Land noch Gewinn versprechend war, löste sich aus der engen Allianz mit Moskau, und strebte ein Bündnis mit Washington an.
Den somalischen Panzern, die kurz zuvor noch aus der Sowjetunion geliefert wurden waren, gelang es bis zu der strategischen Bahnlinie vorzustoßen und sogar den Flughafen von Dire Dawa zu besetzen. In den Außenbezirken wurden sie von Teilen der somalischen Bevölkerung als Befreier gegrüßt, die Stadt selbst wurde aber von den äthiopischen Truppen gehalten. Im Namen von Menschenrechten und Demokratie, die vom äthiopischen Regime mit Füßen getreten wurden, um die es in Somalia allerdings auch nicht gut bestellt war, ließ der damalige US-Präsident Carter ein Waffenembargo gegen Addis-Abeba verhängen. Die Sowjets nahmen ihre Chance war, kamen Äthiopien zur Hilfe und warfen die somalische Armee mit Hilfe von regulären kubanischen Truppen wieder bis an die Staatsgrenze zurück. Fast vierzig Jahre sind seitdem vergangen. Der Sturz des kommunistischen Diktars Mengistu liegt schon bald ein Vierteljahrhjundert zurück. Somalia hat als Staat aufgehört zu existieren, Äthiopien ist es gelungen, nach dem Sturz von Mengistus eine einigermaßen tragbare politische Ordnung zu installieren.
Trotzdem gilt die im Osten gelegene Stadt Dire Dawa, die inzwischen einen eigenen Bundesstaat bildet und direkt an die äthiopische Somali-Region grenzt, der Regierung immer noch als strategisches Hochsicherheitsgebiet. Die Bevölkerung der Stadt, repräsentiert den komplexen ethnischen Charakter des Vielvölkerstaates Äthiopien und setzt sich aus Oromo, der zahlenmäßig größten, aber politisch machtlosen Ethnie, aus Somalis und Amharen zusammen, dem ehemals staatstragenden Volk. Mehr als die Hälfte der Einwohner sind Muslime.
"Äthiopien ist kein Staat in unserem Sinne, das ist beileibe keine Nation", erklärt Axel E., der als Reiseleiter für das Unternehmen Studiosus arbeitet, bei einem Kaffee im besten Haus der Stadt, dem Ras-Hotel. "Es ist eher ein Vielvölkergebilde, wie das Reich der Habsburger bis 1918. Die traditionell amharische Herrschaftsschicht, die unter dem Kaiser, als auch noch unter der kommunistischen Herrschaft, die entscheidenden Positionen besetzte, lässt sich mit der staatstragenden deutschen Minderheit im alten kaiserlichen Österreich vergleichen, nur mit dem Unterschied, dass Äthiopien bis heute nicht untergegangen ist", doziert der Deutsche, der seine Kindheit in Addis Abeba verbrachte.
Auf den Märkten der Altstadt herrscht dichtes Gedränge, ein babylonisches Sprachengewirr liegt in der Luft. Muslimische Frauen in farbenfrohen Gewändern, bieten strahlend Obst und Gemüse an. Somalische Männer, mit feuerroten Bärten, halten ein Schwätzchen. Oromo-Hirten führen ihr Vieh an amharischen Beamten vorbei, die immer noch die Würde des einstigen Staatsvolkes ausstrahlen. Wie überall in Äthiopien werden Ferenji, wie man dort "weiße" Besucher nennt, überaus freundlich empfangen. Dire Dawa wurde 1902 als Verwaltungssitz der Franco-Äthiopischen Eisenbahn gegründet. 1917 erreichte die mit französischem Kapital erbaute Trasse schließlich Addis Abeba, von Dschibuti über Dire Dawa.
Die Franzosen errichteten auch den Bahnhof, bauten Schulen und Werke, eine französische Spracheninsel entstand längst der Bahnschiene, die bis heute noch existiert. Französisch ist bis heute noch Verkehrssprache geblieben und wird vom Direktor bis zum Weichenputzer als Kommunikationsmittel in schriftlicher und mündlicher Form genutzt.
Nach dem 1. Weltkrieg strömten Italiener und Griechen in die Stadt, gefolgt von Indern und Geschäftsleuten aus dem Süden der Arabischen Halbinsel, Jemeniten überwiegend, und machten diesen Knotenpunkt zu einer kosmopolitischen Bastion am Horn von Afrika.
Nach dem Sturz der Monarchie, Mitte der 1970er Jahre, verließen fast alle Ausländer die Stadt. Auf dem Griechischen Friedhof erinnern im hellenistischen Stil errichte Denkmäler und Grabsteine an die Präsenz dieser Diaspora.
Dire Dawa ist heute, gemäß offizieller Statistiken, die zweitgrößte und am schnellsten wachsende Metropole Äthiopiens. Die Region um die Stadt bildet den zweitgrößten ökonomischen Ballungsraum nach Addis Abeba, gerade aufgrund der relativen Nähe zu den internationalen Häfen von Dschibuti und Berbera im Somaliland. Die Regierung hat Dire Dawa zu einer Boom-Town ernannt.
Für das Binnenland Äthiopien, welches mit der Unabhängigkeit Eritreas seinen direkten Zugang zum Roten Meer verlor, ist der Ausbau der Eisenbahnverbindungen am Horn von Afrika von außerordentlicher Bedeutung.
China unterstützt die hochtrabenden Pläne der Regierung beim Eisenbahnbau, wie auch bei anderen Infrastruktur-Projekten. Ende 2015, so die vorläufigen Planungen, soll die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke an den Start gehen. Ob dies gelingt bleibt fraglich, denn seit 2008, nach zahlreichen gescheiterten Verhandlungen mit ausländischen Investoren, wurde die Strecke erst einmal ganz still gelegt, obwohl die Arbeiten an der Schienenstrecke vorangehen.
"Die alte Strecke nach Djibouti wird das Wichtigste sein", erklärt ein Bahnmitarbeiter im perfekten Französisch, der wie seine ca. 500 Kollegen von der staatlichen Eisenbahngesellschaft nicht entlassen wurde, obwohl er momentan nichts zu tun hat. "Über den Hafen von Djibouti führt Äthiopien 90% seiner Waren aus. Der Schienentransport ist billiger und nicht so wetteranfällig wie unsere verstopften Straßen, welche in der Regenzeit unpassierbar sind", erklärt der Eisenbahner, während er in seinem Büro alte Akten entstaubt. Die Regierung in Addis Abeba, welche sich zum Ziel gesetzt hat, Äthiopien in wenigen Jahren zu einem "Middle Income"-Staat zu verwandeln, prognostiziert ein Job-Wunder, wenn erst einmal moderne Hochgeschwindigkeitszüge durch das Horn von Afrika rauschen. Ganz falsch sind solche Zielsetzungen sicherlich nicht, wenn auch moderne Eisenbahnverbindungen in einem Hochgebirgsland eine technologische Herausforderung darstellen.
Auch in den anderen ostafrikanischen Nachbarstaaten wird wieder kräftig in die Modernisierung des Schienenverkehrs investiert. In Kenia arbeitet man an einer Wiederbelebung der alten Strecke zwischen dem Hafen von Mombasa am Indischen Ozean über die Nairobi bis hin nach Kampala, der Hauptstadt Ugandas. Weitere Eisenbahnverbindungen, die das Horn von Afrika bahntechnisch erschließen sollen, sind in Planung.
Die Region wächst zusammen, das Rote Meer wird zum Brückenkopf und schon kursieren atemberaubende Visionen, die eine Vernetzung des Schienennetzes Ostafrika mit dem der arabischen Halbinsel propagieren. Ob dieses eines Tages Wirklichkeit wird, hängt davon ab, ob es in der Region friedlich bleibt. Äthiopien, wo vorläufig eine gewisse Stabilität eingekehrt ist, liegt in einer der politisch instabilsten Regionen der Welt.
Äthiopien ist zwar gemessen am Pro-Kopf-Einkommen noch immer eines der ärmsten Länder der Welt. Gleichwohl verfügt es laut einem Bericht der Weltbank über eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften. "Wussten Sie, dass man Äthiopien zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Japan Afrikas bezeichnete", fragt ein pensionierter Direktor der Eisenbahn, bei einem Imbiss im Bahnhofsrestaurant. "Dann kamen die Jahrzehnte des Hungers, der Kriege und Bürgerkriege. Vielleicht schaffen wir es, irgendwann die Lokomotive Ostafrikas zu werden, wenn sie mir diese Metapher hier an diesem geschichtsträchtigen Bahnhof gestatten."
Der Direktor im Ruhestand, ein weltoffener und gebildeter Mann, schaut sich vorsichtig um. Auch im heutigen Äthiopien bleibt die Ausübung der Meinungsfreiheit riskant. Die Regierung orientiert sich trotz des formal demokratischen Anstrichs ihrer Herrschaft eher am autoritären chinesischen Modell der Entwicklung, als an irgendwelchen Spielarten westlicher Demokratievorstellungen.
In dem Restaurant trinken Bahnarbeiter Kaffee und verzehren reichhaltige Portionen von Spaghetti oder Lasagne. Obwohl die faschistische Herrschaft Mussolinis nur 5 Jahre hielt, von 1936-1941, haben sich die Essgewohnheiten der italienischen Okkupanten bis heute erhalten.
"Wir Äthiopier sind ein stolzes Volk geblieben", fährt der ehemalige Direktor fort. "Persönlich bin ich der Meinung, wir sollten uns nicht zu sehr an China ausrichten. Bitte sagen Sie den Menschen in Europa, sie möchten hier bei uns investieren. Es gibt eine junge, schnell wachsende Bevölkerung, die schon bald die 100-Millionen-Grenze überschreiten wird. Europa und Afrika liegen doch so dicht beieinander, mit unserem gemeinsamen Potential, Eurem Stand der Technologie, unseren Rohstoffen, könnten wir doch eines Tages die Probleme beseitigen."
Der Direktor nimmt seine Brille vom Gesicht, reibt sich die Augen. "Ich habe lange in Kenia gelebt, meine Kinder studieren in den USA, aber zu den Menschen in Europa fühlen wir Äthiopier uns kulturell am engsten verbunden, gerade wir Christen. Ich weiß, Äthiopien ist aus den Schlagzeilen der westlichen Presse verschwunden", fährt er fort, "aber hier am Horn von Afrika sind schicksalhafte Entwicklungen im Gange, die Euch so oder so berühren werden, ob im Guten oder Schlechten. Wann fangt Ihr Europäer endlich wieder mit einer eigenen Außen- und Afrika-Politik an?", fragt er, bevor er sich verabschiedet.