Border: Ein Film über Trolle, Päderasten und Liebesspiele im Märchenwald
Seite 2: Eraserhead trifft Frl.Smilla
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- Eraserhead trifft Frl.Smilla
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Roland wird vor die Tür gesetzt und mit Vore kommt die bislang eher angedeutete Fantastik nun wirklich in Tinas Leben. Ihr neuer Liebhaber eröffnet ihr, dass sie beide nicht nur "anders" sind, sondern von ganz anderer Art als die Menschen. Sie seien in Wahrheit Trolle - gemeint sind damit nicht nervige Netzkommentar-Schreiber, sondern die mythischen Wesen nordischer Wälder, von denen die Bezeichnung ursprünglich stammt.
Troll (altnord. Unhold), im skand. Volksglauben männl. o. weibl. Dämon oder Kobold in Riesen- oder Zwergengestalt; zu den Trollen zählen auch die Menschen, die Troll-Eigenschaften erkennen lassen, und solche, die nach ihrem Tod als Wiedergänger auftreten. Die Trolle, häufig grotesk und schreckenerregend mißgestaltet, vermögen ihr eigenes Aussehen und das anderer ständig zu verändern. Sie sind den Menschen feindlich, behexen sie mit Krankheiten und fürchten das Tageslicht, durch das sie ihre Kraft verlieren.
Brockhaus Bd.19 (1974)
Wie im fantastischen Kriminalroman "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" mischen sich übernatürliche Elemente mit Thriller-Motiven. Vore eröffnet Tina, dass die Trolle, derer er viele in den Wäldern Finnlands vermutet, von den Menschen unterdrückt werden. Seine Eltern wären in medizinischen Experimenten ermordet worden und er wolle sich dafür an der Menschheit rächen.
Noch grusliger als durch seine Neigung, Maden zu essen, woran Tina sogar Geschmack findet, wird Vore durch ein monströses Trollbaby. Scheinbar hat Vore dies auf dem Weg der Jungfernzeugung zur Welt gebracht und hält es in einem Karton im Kühlschrank am Leben. So ein unbefruchtetes Ding komme einmal im Monat aus ihm heraus, sagt er, als Tina ihn zur Rede stellt. Hier werden Erinnerungen an den Debütfilm von David Lynch wach, Eraserhead (USA 1977), wo sich Angst und Verzweiflung in einer monströsen Frühgeburt manifestieren.
Krimiplot trifft Fantastik
Gräns tanzt surreal an der Schwelle zum Fantastischen: Hat Vore in einer folie à deux Tina mit seinen Wahnvorstellungen angesteckt? Gibt es wirklich Trolle in den Wäldern Skandinaviens? Das Wesen im Kühlschrank ist deutlich kein menschlicher Fötus, seine Nase erinnert an die Nasen Vores und Tinas und es hat einen Schwanz genau dort, wo die beiden eine Narbe haben.
Tina erfährt auf bohrendes Nachfragen von ihrem Vater, dass sie tatsächlich adoptiert wurde und ihre leiblichen Eltern in einer Anstalt starben - wie die Vores. Ihre Narbe am Steiß stamme von einer Verletzung aus ihrer Kindheit. In der nordisch-lakonischen Zeichnung der Figuren glänzt vor allem Eva Melander in ihrer sensiblen und vielschichtigen Darstellung der Tina, auch Eero Milonoff bringt den mal verführerischen, mal diabolischen Vore überzeugend auf die Leinwand.
Die Zusammenführung der beiden sehr unterschiedlichen Handlungsstränge gibt der Fantastik gegenüber dem Krimiplot den Vorzug und bleibt in diesem Rahmen immerhin halbwegs plausibel. Ähnlich geht es der Frage nach hermaphroditischer Liebe und ihren Folgen. Man kann den Plot für überfrachtet halten und den Mix der Handlungen für unplausibel; in seinem komplexen Szenario löst der Film die Verstrickungen jedoch recht elegant mit einigen überraschenden Wendungen.
Political correctness und Ängste
Freunde der political correctness könnten mit der Story ihre Probleme haben. An der Oberflächliche wirkt die fantastische Erklärung einer Chromosomen-Störung despektierlich, denn Trolle gelten als dämonische Unholde. Doch vielleicht zeigt der Film damit eher, was auch in der vorbildlich toleranten schwedischen Gesellschaft im Unbewussten vieler Menschen ablaufen könnte, wo unterschwellige Diskriminierungen lauern, wenn den vermeintlich aufgeklärten Zeitgenossen heimliche Ängste vor mythischen Trolldämonen packen.
Archaische Ängste wurzeln in tiefen Schichten des Riechhirns und die wiederholt von der Kamera fokussierte tierhaft witternde Nase der Hauptdarstellerin liefert hier ein schönes Bild für das Aufspüren tiefsitzender Furcht vor dem Anderen, dem Fremden, das man "nicht riechen kann". Dieses Andere manifestiert sich wie üblich in unschönen, ja deformierten Gesichtszügen, schiefen Zähnen, ekligen Essgewohnheiten. Aber dieses Andere schnüffelt in Gräns zurück und entlarvt unser Unbehagen, Schuldgefühle und Ängste.
Der Film bleibt letztlich bei seiner Trollgeschichte, entkräftet aber die unbewussten Ängste vor den bei aller Toleranz doch ausgegrenzten Nicht-Normalen: Tina entscheidet sich gegen Vores Rachepläne und opfert die Beziehung ihrem Pflichtgefühl als schwedische Staatsbeamtin - zumindest vorerst.
Regisseur Ali Abbasi widersetzt sich damit auf ganzer Linie den stereotypen Klischees platter Mainstream-Produktionen, in denen man "die Bösen" allein schon an ihrem abnormen Aussehen erkennen soll. Es ist ein Film, der Grenzen überschreitet und dabei die Grenzen unserer aufgeklärten Toleranz an der Nase packt.
Border (Originaltitel: Gräns), Schweden/Dänemark 2018, Originalsprache Schwedisch, 110 Min, FSK 16
Regie: Ali Abbasi, Darsteller: Eva Melander (Tina), Eero Milonoff (Vore)
Kinostart: 11.4.2019.