Boris-Pistorius-Debatte: Deutschland soll wieder kämpfen lernen!
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Mediensplitter (52): Was heißt mehr Kriegstüchtigkeit? Die Wiedereinführung der Wehrpflicht? Oder ein neues Narrativ zur nationalen Identität? Die Debatte geht ans Eingemachte.
Ist das jetzt die "wahre" Zeitenwende? Nicht nur, dass die Preise steigen und sich eine Krise mit der nächsten zu einem hochprozentigen Unsicherheits-Cocktail mischt, dessen Verträglichkeit noch unbekannt ist.
Jetzt müssen sich die Bürgerinnen und Bürger auch noch darauf einstellen, dass "Deutsche töten und getötet werden. Unter anderem", wie die NZZ den harten Tabu-Kern einer Debatte formuliert, die Verteidigungsminister Boris Pistorius angestoßen hat.
Der derzeit beliebteste Politiker der Deutschen (NZZ) forderte vergangene Woche einen Mentalitätswechsel in der Gesellschaft: "Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen."
Verteidigungsfähigkeit und Wehrpflicht
Für die Wortwahl bekam er Kritik von seinem Parteigenossen Rolf Mützenich: Die Begriffe, so fürchtet der SPD-Fraktionschef , könnten "zu noch größerer Verunsicherung beitragen und heizen im Zweifel auch gesellschaftliche Konflikte um diese schwierigen Themen an".
Der bessere Begriff sei "Verteidigungsfähigkeit", schlägt Mützenich vor. Davon sei in der Bundesrepublik bislang zu Recht die Rede gewesen. Und dafür tue man mit dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro "sehr viel".
Das Sondervermögen reiche nicht, es werde irgendwann aufgebraucht sein, hatte der Verteidigungsminister schon im Mentalitätswechsel-Interview betont.
Es muss mehr geschehen, Grundlegenderes, fordert auch der Chef des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, er will mehr Soldatinnen und Soldaten über mehr Werbung an den Schulen – und über die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Darüber soll neu debattiert werden, wünscht sich Wüstner.
Die Forderung kommt nicht unerwartet, aber doch schnell. Wehrpflicht kostet viel Geld, ist auch organisatorisch sehr aufwendig. So ist die Diskussion über eine Wiedereinführung, die in den letzten Jahren verschiedentlich aufflammte, auch schnell wieder verpufft. Ist es jetzt unter der neuen Gegenwart von Kriegen anders?
Ein neues Narrativ für deutsche Mindsets
Deutschland braucht jedenfalls ein neues Narrativ. Das ist die Quintessenz des eingangs erwähnten NZZ-Debattenbeitrags.
Pistorius redet von Kriegstüchtigkeit und rührt damit an ein Tabu in der politischen und gesellschaftlichen Debatte Deutschlands. Nie wieder Krieg, mit dieser pazifistischen Grundhaltung sind große Teile der Gesellschaft und der heutigen Regierung politisiert worden. Nun sollen Deutschland, seine Bürger und die Armee wieder wehrhaft werden.
Marco Seliger, NZZ
Aber wie hilft man einer Gesellschaft, die dem "Hedonismus frönt" (NZZ) und im pazifistischen Mindset steckt, wieder auf kriegstüchtige Beine? Mit Anleihen aus dem Sport geht das am besten.
"Deutschland müsste nun wieder kämpfen lernen", heißt es im Artikel. So könnte auch eine Schlagzeile zur Fußball-Nationalmannschaft lauten. Unterlegt wird dies mit einem Lamento, wie man es jeden Tag irgendwo liest: zu viel Gut-Gehen-lassen, "Verwöhnung", "Verweichlichung" in den letzten Jahrzehnten, die geprägt waren von der Friedensdividende (Pistorius).
Jetzt, so der Appell des Redakteurs für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der Schweizer Zeitung, heißt es Umdenken. Deutschland muss seine notwenige Verteidigungsbereitschaft neu finden. Dafür muss man ans Eingemachte:
Man könnte beginnen mit einem Zitat des früheren lettischen Außen- und Verteidigungsministers, Artis Pabriks. Er sagte vor kurzem in der ARD, Deutschlands militärische Schwäche habe mit dem Verteidigungsunwillen seiner Gesellschaft zu tun.
Oder mit einer Aussage des früheren Oberkommandierenden der US-Landstreitkräfte in Europa, Ben Hodges, ebenfalls in der ARD: Er zweifele nicht an der Qualität der Bundeswehr, aber an ihrer Kampfbereitschaft, sagte der frühere US-General. Deutschland fehle der politische Wille zum Kampf.
Marco Seliger, NZZ
Nationale Identität: "Eine Idee, für die man kämpfen will"
Hier nun kommt das große Wort ins Spiel, das stets fällt, wenn es um Kriegs- und Verteidigungsbereitschaft geht: "die nationale Identität, für die das Volk kämpfen will".
Die NZZ zitiert dazu den Militärhistoriker Sönke Neitzel, der der Frankfurter Rundschau im Februar 2021 mit schrillen Aussagen aufgefallen ist:
Die "Kernaufgabe" des Kriegers sei "Kämpfen, Töten, Sterben". Die Politik müsse sich da "ehrlich machen".
Frankfurter Rundschau (FR)
Damals statuierte die FR noch: "Neitzels wissenschaftlich eingefärbte Krieger-Nostalgie wirkt wie aus der Zeit gefallen und als Versuch, den ‚Ernstfall Krieg‘ wiederherzustellen."
Jetzt, zweieinhalb Jahre später, stellt sich die Situation anders dar. Wenn Neitzel in der NZZ nun eine fehlende nationale Identität, für die eine Gemeinschaft kämpfen will, moniert, dann kann er auf die Ukraine verweisen, wo die Bürger "eine Idee" hätten, wofür sie kämpfen wollten.
Und zugleich kann er auf dieser Grundlage eine Attacke auf den vor allem von rechts oft kritisierten Verfassungspatriotismus reiten:
Kein Mensch setzt sich für die Verfassung einen Stahlhelm auf und zieht in den Krieg.
Sönke Neitzel, NZZ
Auch das gehöre zur "Kriegstüchtigkeit", resümiert Marco Seliger: "Die führenden Politiker des Staates müssen zur Nation stehen, sie müssen im Land ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür fördern."