Brauchen gesunde Kinder und Jugendliche wirklich eine Corona-Impfung?
Nach langem Druck aus der Politik hat die Ständige Impfkommission jetzt eine generelle Impfempfehlung für Heranwachsende beschlossen
In der Öffentlichkeit und der Fachwelt wurde in den letzten Wochen sehr kontrovers über die Impfung von Kindern und Jugendlichen gestritten. Nachdem das Vakzin von Biontech/Pfizer, Comirnaty, als erster Impfstoff für Heranwachsende ab zwölf Jahren in der EU zugelassen worden ist, hat sich auch Telepolis mit diesem Thema kritisch auseinandergesetzt, etwa hier und hier.
Der vorliegende Text wurde am 15. August fertiggestellt, einen Tag, bevor die Ständige Impfkommission (Stiko) entgegen ihrer bisherigen Haltung zur Impfung von Kindern und Jugendliche eine generelle Impfempfehlung auch für Heranwachsende ab zwölf Jahren beschlossen hat. Es handelt sich bisher nur über einen Beschlussentwurf. Die endgültige Fassung mit dazugehöriger wissenschaftlicher Begründung soll später veröffentlicht werden.
Die Hausärzte in Deutschland beklagen laut Agenturmeldungen diese Entwicklung und werfen der Politik vor, unzulässig Druck auf die Stiko ausgeübt zu haben. Der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt, sagte am Dienstag dieser Woche laut Funke Mediengruppe:
Wir haben immer betont, dass die Wissenschaft entscheidet, wann ausreichende Erkenntnisse vorliegen, um Jugendlichen ein Impfangebot zu machen. Dazu hätte es keines Drängens von Politikseite bedurft.
Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands
Dieser Einschätzung kann ich mich nur anschließen.
Die Ärzteschaft ist gespalten
Anfang Mai 2021 hat der Deutsche Ärztetag die Bundesregierung aufgefordert, für Kinder und Jugendliche eine Covid-19-Impfstrategie zu entwickeln, weil nur durch Impfung der jüngeren Bevölkerung eine Herdenimmunität erreicht werden könne und auch bei dieser Bevölkerungsgruppe angeblich deutliche gesundheitliche Risiken infolge einer Sars-CoV-2-Infektion beständen.
Im Gegensatz dazu hielt die Stiko bis zum 16.8.2021 an ihrem Beschluss vom 10.6.2021 fest, keine generelle Empfehlung für diese Altersgruppe abzugeben und empfahl die Impfung mit Comirnaty nur bei Kindern mit Vorerkrankungen, die ein Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 aufweisen.
Begründung der Impfempfehlung der Stiko vom 10.6.2021
Nach Prüfung der Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit des mRNA-Impfstoffs Comirnaty bei Kindern und Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren und Auswertungen der Daten zur Epidemiologie und zum Krankheitsbild von Covid-19 in dieser Altersgruppe hatte die Stiko nach abschließender Risiko-Nutzen-Abwägung zunächst entschieden, zum damaligen Zeitpunkt keine allgemeine Covid-19-Impfempfehlung für zwölf bis 17-Jährige auszusprechen.
Dieser Beschluss wird in einer ausführlichen wissenschaftlichen Stellungnahme begründet, in der die Stiko lediglich eine Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche ab dem zwölften Lebensjahr abgegeben hat, bei denen die folgenden Vorerkrankungen und Risikofaktoren festzustellen sind:
- Adipositas;
- angeborene oder erworbene Immundefizienz (Immunschwäche) oder relevante Immunsuppression (Unterdrückung der Immunreaktion, z. B. durch Medikamente oder eine HIV-Infektion);
- angeborene zyanotische Herzfehler;
- schwere Herzinsuffizienz (Herzschwäche);
- schwere pulmonale Hypertonie (Bluthochdruck im Lungenkreislauf);
- chronische Lungenerkrankungen mit anhaltender Einschränkung der Lungenfunktion;
- chronische Niereninsuffizienz (Nierenschwäche);
- chronisch neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen;
- bösartige Tumorerkrankungen;
- Trisomie 21;
- nicht ausreichend eingestellter Diabetes mellitus und
- syndromale Erkrankungen mit schwerer Beeinträchtigung, bei denen es sich um eine Vielzahl seltener genetisch-bedingter Erkrankungen handelt, die häufig mit einer Intelligenzminderung, geistigen Behinderung und/oder angeborenen Fehlbildung einhergehen.
Zusätzlich wird die Impfung solchen Kindern und Jugendlichen ab zwölf Jahren empfohlen, in deren Umfeld sich Angehörige oder andere Kontaktpersonen mit hoher Gefährdung für einen schweren Covid-19-Verlauf befinden, die selbst nicht geimpft werden können oder bei denen der begründete Verdacht auf einen nicht ausreichenden Schutz nach Impfung besteht (z.B. Menschen unter immunsuppressiver Therapie).
Eine berufliche Indikation aufgrund eines arbeitsbedingt erhöhten Expositionsrisikos besteht für Jugendliche entsprechend den beruflichen Impfindikationsgruppen im Stufenplan.
Schließlich wurde nach den Empfehlungen der Stiko der Einsatz von Comirnaty bei Kindern und Jugendlichen ohne Vorerkrankungen nach ärztlicher Aufklärung und bei individuellem Wunsch und Risikoakzeptanz des Kindes oder Jugendlichen bzw. der Sorgeberechtigten ermöglicht.
Comirnaty hat in der Zulassungsstudie bei den Kindern und Jugendlichen im Alter von zwölf bis 15 Jahren eine hohe Wirksamkeit zum Schutz vor Covid-19 gezeigt.
Hinsichtlich der Sicherheit des Impfstoffs bestehen jedoch noch Wissenslücken, da die Nachbeobachtungszeit nach Impfung zu kurz und die Zahl der eingeschlossenen Proband:innen zu gering war.
Dies bedeutet, dass unerwünschte Ereignisse, die mit einer Häufigkeit von weniger als eins pro 100 verabreichten Impfstoffdosen auftreten, kaum erkannt werden können.
Aufgrund der kurzen Nachbeobachtungszeit in der Zulassungsstudie können auch ggf. häufigere, aber verzögert auftretende unerwünschte Ereignisse derzeit noch nicht ausgeschlossen werden.
Auch sind nach Einschätzung der Stiko Kinder nicht die Treiber des Pandemiegeschehens. Viele Kinder und Jugendliche infizieren sich asymptomatisch mit Sars-CoV-2, und wenn Kinder und Jugendliche ohne Vorerkrankungen erkranken, ist der Covid-19-Krankheitsverlauf meist mild.
Hospitalisierungen und intensivmedizinische Behandlungen aufgrund von Covid-19 sind selten und bisher sind nur einzelne Todesfälle bei schwer Vorerkrankten aufgetreten.
Die Krankheitslast von Covid-19 bei Kindern und Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren ist mit der Krankheitslast von Influenza in dieser Altersgruppe vergleichbar.
Ziel der Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche ist die Prävention von schweren Covid-19-Verläufen und Todesfällen und die Verhinderung der Übertragung von Sars-CoV-2 an vulnerable Personen im Umfeld, die selber nicht durch eine Impfung geschützt werden können.
Der Nutzen der Impfung, schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern, ist in dieser Altersgruppe nicht allgemein gegeben. Es müssten etwa 100.000 Kinder und Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren geimpft werden, um einen einzigen Covid-19-bedingten Todesfall in dieser Altersgruppe zu verhindern.
Darüber hinaus müssen in der aktuellen Lage die weiterhin limitierten Impfstoffressourcen nutzbringend eingesetzt werden. Dies bedeutet, dass noch nicht geimpften gefährdeten Personen vorrangig ein Impfangebot gemacht werden sollte.
Solange noch viele Erwachsene mit deutlich höherem Risiko ungeimpft sind, ist eine Umverteilung der Impfstoffe an gesunde Kinder und Jugendliche epidemiologisch und individualmedizinisch nicht sinnvoll. Eltern, Betreuungspersonen von Kindern und Jugendlichen, LehrerInnen und ErzieherInnen sollten das Impfangebot vorrangig wahrnehmen.
Die Stiko spricht sich explizit dagegen aus, dass der Zugang zur Teilhabe an Bildung, Kultur und anderen Aktivitäten des sozialen Lebens vom Vorliegen einer Impfung abhängig gemacht wird.
Die Politik macht Druck auf die Stiko
Am 14. August erschien auf der ersten Seite unserer Regional-Zeitung ein Artikel mit der Überschrift "Jeder dritte Schüler hat schon die erste Spritze gegen Corona".1
Darin macht sich die schleswig-holsteinische Bildungsministerin, Karin Prien (CDU), für eine Impfkampagne für die Zwölf- bis 17-Jährigen stark. Sie weist auf die hohe Impfbereitschaft in dieser Altersgruppe hin, setzt sich damit aber ohne nähere Begründung über die Empfehlungen der Expertengruppe der Stiko hinweg und verkündet stolz:
Schon heute sind 30,9 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren in Schleswig-Holstein mindestens einmal geimpft. Das ist bundesweiter Spitzenwert.
Karin Prien, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein
Eine derartige Stellungnahme ist vermutlich eher dem beginnenden Wahlkampf geschuldet und nicht tieferer Einsichten in den Sachverhalt, um den es hier geht.
Und was die Eltern, die Erziehungs- und Sorgeberechtigten dieser Heranwachsenden, und deren Lehrerinnen und Lehrer dazu sagen, wird in dem Artikel leider nicht berichtet.
Was sagen die Kinderärzte in dieser Debatte?
Was die Fachärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, deren Aufgabe es ist, sich um die Gesunderhaltung dieser Altersgruppe zu kümmern, und die Pädiatrischen Fachgesellschaften aus wissenschaftlicher Sicht in dieser Debatte zu sagen haben, wird ebenfalls meist ausgespart.
Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) hatte bereits am 18. Mai zu diesem Thema eine ausführliche Stellungnahme abgegeben.
Darin wird unter anderem gefordert, dass eine Impfung der Kinder und Jugendlichen nur durchzuführen sei, wenn diese "durch die Stiko empfohlen werde und im Rahmen dieser Empfehlung" durchzuführen sei.
Weiterhin möchte ich auf das informative Infoblatt für Kinder- und Jugendärzt:innen und Eltern des Robert-Koch-Instituts vom Juni 2021 hinweisen, in dem einleitend (in roter Schrift) darauf hingewiesen wird, dass es keine allgemeine Impfempfehlung der Stiko für Kinder und Jugendliche gibt, sondern nur für solche mit besonderem Risiko.
Auf der Internetseite des Vereins "Ärzte für individuelle Impfentscheidung e.V.", in dem sich einige Fachärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin zusammengeschlossen haben, finden sich eine Reihe von kurzen, nur einige Minuten dauernden, aufklärenden Video-Stellungnahmen aus ärztlicher Sicht zu dieser Debatte.
Besonders aufschlussreich sind die ersten fünf Videos mit folgenden Titeln: "Kinder, Covid und die Siko", "2. August 2021", "Delta und die Herde", "Die Profis von der Stiko" und "Long Covid bei Kindern".
Die Aussagen in diesen kurzen Stellungnahmen sind wissenschaftlich gut belegt, selbsterklärend und müssen nicht weiter erläutert werden. Bei der im ersten Video erwähnten Siko handelt es sich um die "Sächsische Impfkommission", im Unterschied zu der oben genannte Stiko.
Schlussfolgerungen:
- Da schwere Verläufe von Covid-19 vor allem bei Menschen im mittleren und höheren Alter (z. B. ab dem 50. Lebensjahr) und solchen mit Vorerkrankungen (z. B. Adipositas, Diabetes, chronischen Herz- und Lungenerkrankungen) auftreten, fällt bei diesen Bevölkerungsgruppen aufgrund der derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse die individuelle Nutzen- und Risiko-Abwägung einer Corona-Impfung mit den in Deutschland zugelassenen Impfstoffen eindeutig positiv aus.
- Gesunde Kinder und Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren sind dagegen eine Gruppe, für die diese Einschätzung wahrscheinlich nicht zutrifft. Bei dieser Gruppe fällt nach dem (bisherigen) Urteil der Stiko die Nutzen-Risiko-Abwägung einer Impfung wahrscheinlich negativ aus.
- Deshalb sollte sich auch die Politik an die wissenschaftlichen Empfehlungen der Stiko, einer unabhängigen Kommission von Experten, die Richtlinien und Empfehlungen zu Schutzimpfungen und Infektionskrankheiten abgibt, halten, es sei denn, es gibt überzeugende Argumente, davon abzuweichen.
- Diese müssten dann in der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt werden, was bisher aber nicht erfolgt ist.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin - Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.