Braucht der menschliche Hippokampus neue Nervenzellen?
- Braucht der menschliche Hippokampus neue Nervenzellen?
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Eine vielbeachtete Studie behauptet, dass er sie nicht bekommt. Einige Gedanken zu den Reaktionen und Folgen
Es gibt nur zwei Gebiete im Großhirn der Säugetiere, in denen noch nach der Geburt neue Nervenzellen entstehen: die Wand der Seitenventrikel und der Gyrus dentatus im Hippokampus. Seitdem Techniken zur Verfügung stehen, um die neuen Zellen einfach und zuverlässig anzufärben, fasziniert dieser Vorgang Wissenschaftler und Laien (Neuronales Upgrade, Warum erzeugt das Gehirn neue Neuronen?), verspricht Erneuerung doch intuitiv so etwas wie Jugend, Offenheit, Lernfähigkeit.
Dabei fällt auf, wie unterschiedlich sich die Aufmerksamkeit auf die beiden neuronenproduzierenden Regionen verteilt. Der Hippokampus ist, nun ja, sexy. Nicht nur sieht er photogen aus mit seinen ineinandergeschobenen Cs, er ist zudem das "Tor zum Gedächtnis", jene anatomische Instanz, durch die jede Erfahrung gehen muss, wenn sie dauerhaft deklarativ abgespeichert werden will.
Kein Patient der Psychiatriegeschichte (außer vielleicht Phineas Gage) ist berühmter als Henry Molaison (H.M., Henry M.), dem 1953 beide Hippokampi entfernt wurden, um seine Epilepsie zu heilen, und der seither in den weiteren 55 Jahren seines Lebens keine neuen Erinnerungen mehr bilden konnte. Obendrein hat der Hippokampus anscheinend etwas mit Stimmungen und Depression zu tun. Kein Wunder also, dass eine Suche in der medizinisch-biowissenschaftlichen Datenbank PubMed nach "(neurogenesis OR cell proliferation) AND (hippocampus OR hippocampal OR dentate)" fast zehntausend Treffer ergibt.
Demgegenüber stehen nur etwas mehr als zweitausend Treffer für "(neurogenesis OR cell proliferation) AND subventricular NOT embryonic". Denn die Zellen aus der subventrikulären Zone (also der Ventrikelwand) wandern "nur" in den Riechkolben ein. Wir Menschen, zumal im Abendland, geben nicht viel auf unseren Riechsinn. Und jedenfalls, nicht wahr, ist Riechen doch weniger sexy als das Rätsel der Erinnerung?
Vergebliche Suche im Hippokampus
Es entbehrt daher nicht der Ironie, dass die Arbeitgruppe von Arturo Álvarez-Buylla an der University of California in San Francisco Anfang März großes Aufsehen mit einem Nature-Artikel erregte, in dem sie feststellte, dass die beteiligten Forscher trotz gründlicher Suche im Hippokampus erwachsener Menschen keine neuen Nervenzellen mehr finden konnten. In der Ventrikelwand hingegen schon. Selbstverständlich, wie auch mehrere Kommentatoren anmerkten, ist Nichtexistenz nicht beweisbar. Darum konnten die Erstautoren Shawn Sorrells und Mercedes Paredes mit ihren Kollegen nichts anderes tun, als ihre sorgfältige Suche zu dokumentieren. Sie verwendeten menschliches Gewebe aus zwei Quellen: Gehirne von Verstorbenen unterschiedlichen Alters, und Stücke aus dem Hippokampus, die Epileptikern rausoperiert worden waren, um den Anfallsherd zu entfernen. In diesen Proben wurden dann verschiedene Marker neugeborener Neuronen angefärbt, auch in Kombination. Es wurde dokumentiert, wo sich angefärbte Zellen fanden, und sogar in elektronenmikroskopischen Aufnahmen ihre Form berücksichtigt. Die Autoren fanden zahlreiche junge Neuronen in Föten, und auch zum Zeitpunkt der Geburt. Danach aber nahm die Dichte neugebildeter Nervenzellen rapide ab, näherte sich schon im Alter von sieben Jahren der Nulllinie, und erreichte diese bei 13 Jahren: So alt war das älteste Gehirn, in dem sich noch einzelne neue Neuronen finden ließen.
An den Methoden liegt es nicht.
Die Reaktionen auf diese Meldung sind aufschlussreich. Sowohl Nature als auch Science brachten redaktionelle Begleitartikel dazu, für welche sie das komplette Who’s Who der Neurogeneseforschung um Stellungnahmen baten. Es scheint, dass niemand den Befund wahrhaben will. "Room for error", "not so clear-cut", "wouldn’t close the books", und so weiter, lauten die Zitate. Das Hauptargument der Skeptiker lautet, dass man bei immunhistochemischen Färbungen nie sicher sein könne, ob sie funktioniert haben - schon gar nicht in Gewebe, das erst Stunden nach dem Tod fixiert wurde und sich schon zersetzt haben kann. Das klingt zunächst plausibel, sticht aber nicht.
Denn erstens fand Álvarez-Buylla mit diesen Methoden durchaus neugeborene Nervenzellen in jüngeren Gehirnen. Er fand sogar welche in erwachsenen Gehirnen, etwa in der Ventrikelwand. Ja, sogar im Hippokampus funktionierten die Marker. Sie färbten nur eben keine Zellen in jener Schicht an, wo neue Neuronen entstehen. Und zweitens benutzte das Team eben darum auch frisch operiertes Gewebe von Epileptikern, das nach allen Regeln der Kunst konserviert wurde. Mit demselben Ergebnis.
Außerdem ist es, bei Licht betrachtet, gar nicht so erstaunlich, dass im erwachsenen Menschengehirn keine neuen Nervenzellen mehr im Hippokampus entstehen. Schon in der Ur-Arbeit, die als erste den Neuronennachschub im Rattenhirn zeigte, wurde auch der Altersverlauf untersucht. Und wenn auch die hyperbelförmige Kurve nicht ganz auf Null geht, so nähert sie sich der x-Achse doch schon im mittleren Rattenalter sehr eng an. Genauso sieht es bei Rennmäusen aus. Und Wale stellen anscheinend nach der Geburt überhaupt keine neuen Neuronen mehr her.
Auch die Truppe von Álvarez-Buylla schaute sicherheitshalber noch bei einer anderen Art, nämlich bei Makaken. Anders als Menschen bilden diese Primaten die Keimschicht, aus der im Hippokampus die neuen Neuronen sprießen. Aber auch bei ihnen sinkt die Neubildungsrate auf minimale Werte ab, wenn sie altern.
Leidenschaft Wissenschaft führt zu Vorannahmen
Wenn sich die Einwände der Kritiker durch einfache Lektüre des Artikels entkräften lassen - warum halten sie trotzdem daran fest?
Damit kommen wir auf den Anfang zurück: Wie jede Geburt, so trägt auch die Neuentstehung von Nervenzellen die Aura von Verheißung und Hoffnung. Der Hippokampus befindet sich im Gedächtnissystem des Schläfenlappens, wo bei der Alzheimer-Erkrankung zuerst Neuronen absterben. Man hatte gehofft, sie durch neugeborene Zellen ersetzen zu können.
Und außerdem gibt es einen interessanten Unterschied zwischen Álvarez-Buylla und seinen Kritikern. Álvarez-Buylla forscht seit Jahrzehnten daran, wie die Zellen des Gehirns entstehen. Auf diesem Gebiet ist er einer der weltweit führenden Forscher (was, nebenbei, ein zwar unwissenschaftliches, aber trotzdem überzeugendes Argument dafür ist, seine Ergebnisse ernstzunehmen). Er hat aufgeklärt, aus welchen Vorläuferzellen sich die neuen Neuronen bilden, und hat Entwicklungswege verschiedener Zelltypen untersucht. Ihre funktionale Einbindung hat ihn anscheinend nie sonderlich interessiert.
Im Gegensatz zu den Skeptikern. Die haben untersucht, wie sich die Neubildungsrate durch Stress oder Umweltbedingungen ändert, was das mit Depression oder Ängstlichkeit zu tun hat, oder wie Lernen und Vergessen durch neue Zellen verändert werden. Bei Nagetieren, versteht sich. All diese Forschungsrichtungen verlieren erheblich an Reiz, wenn sie für den erwachsenen Menschen irrelevant sein sollten.
Das soll keine bösartige Unterstellung sein. Ich finde das völlig normal, menschlich und sympathisch. Forscher begeistern sich für ihr Gebiet: Daraus speisen sich ihre Neugier und ihre Kreativität. Selbstverständlich überschätzen sie gerne die Bedeutung ihrer Forschung. Das merkt man an den einleitenden Sätzen nahezu jedes Forschungsartikels. Dass Wissenschaftler keine objektiven Denkmaschinen sind, sondern von Leidenschaften getriebene Menschen, wissen Wissenschaftstheoretiker seit Jahrzehnten, spätestens seit Kuhn und Feyerabend. Dieser Cartoon bringt das sehr treffend auf den Punkt.