Brexit-Streit: Bercow droht Johnson mit "Kreativität" des Parlaments
Mögliche Szenarien reichen inzwischen vom Stellen des Verlängerungsantrags durch schottische Richter über eine Seebrücke nach Nordirland bis hin zur britischen Blockade der EU-Gremien
Der britische Parlamentspräsident John Bercow kündigte diese Woche seinen Rücktritt zum 31. Oktober an, will aber vorher nach eigenen Angaben sicherstellen, dass "die einzige Form des Brexits, wann immer er eintritt, ein Brexit sein wird, den das Unterhaus explizit gutgeheißen hat". Sollte der britische Premierminister Boris Johnson eine Option finden, das Stellen eines erneuten Verlängerungsantrags in Brüssel mehr oder weniger legal zu unterlassen, werde er im Parlament "zusätzliche prozedurale Kreativität" walten lassen, falls er das für erforderlich hält.
Wann dieses Parlament wieder zusammentritt, ist derzeit nicht ganz klar. Eigentlich wurde es vom Regierungschef bis zum 14. Oktober in die Prorogationspause geschickt. Gegen diese Pause wurden jedoch Klagen eingereicht, über die englische und schottische Gerichte unterschiedlich entschieden haben: Während der Londoner High Court eine Klage des ehemaligen Tory-Premierministers John Major abwies, entschied das höchste schottische Berufungsgericht in Edinburgh auf eine Klage der SNP-Abgeordneten Joanna Cherry und anderer Parlamentsmitglieder hin, die Pause sei unter einem Vorwand angesetzt worden und deshalb null und nichtig.
Schottische und walisische Separatisten leiten aus dieser Entscheidung ab, dass nun ein schottischer Richter in Brüssel einen Verlängerungsantrag stellen könnte, falls Boris Johnson das nicht selbst macht. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich auch schottische Richter an die Rechtsprechung des britischen Supreme Court halten, der die Prorogationsfrage am Dienstag verhandeln will.
Am Tag davor wird Boris Johnson vom scheidenden EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in dessen Heimat Luxemburg erwartet. Ob er dabei neue Vorschläge für die zukünftige Handhabung der Zoll- und Kontrollfrage an der Grenze zwischen der Republik Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörigen Nordirland mitbringen wird, die der alte und neue irische EU-Kommissar Phil Hogan verlangt, ist noch offen.
Seebrücke zwischen Schottland und Nordirland?
Channel 4 mutmaßt anhand von "internen Dokumenten", die dem Sender zugespielt wurden, dass so ein Vorschlag den Bau einer Brücke zwischen dem schottischen Portpatrick und dem nordirischen Larne beinhalten könnte. Dafür müssten etwa 45 Kilometer Wasser überwunden werden, was im internationalen Vergleich gesehen kein neuer Rekord wäre (vgl. Längste Seebrücke der Welt verbindet Hongkong mit Macao und dem chinesischen Festland).
So eine Seebrücke könnte die Angst von nordirischen Protestanten schmälern, dass sich die Verbindung zwischen dem Vereinigten Königreich und Nordirland lockert, wenn man Grenzkontrollen in die irische See verlagert. Offiziell heißt es dazu aus Downing Street Nummer 10 lediglich, der Premierminister denke über vielerlei mögliche Projekte nach und habe "bisher kein Geheimnis aus seiner Unterstützung für Infrastrukturprojekte gemacht, die das Vereinigte Königreich stärken könnten".
Finden die Regierungen in London und Dublin und die EU in Brüssel keinen allerseits akzeptablen Kompromiss bis zum EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober, ist offen, was am und nach dem 19. Oktober passieren wird. Eine Möglichkeit, die unter anderem der Telegraph debattiert, ist, dass Johnson dann zwar den vom Parlament vorformulierten No-No-Deal-Verlängerungsantrag in Brüssel abgibt, aber dort gleichzeitig klar macht, dass es sich dabei nicht um seinen Willen, sondern um ein aufgezwungenes Diktat handelt.
Drohung mit Blockade der EU-Gremien?
In so einem Fall könnten sich die EU-Kommission und die Staats- und Regierungschefs der anderen EU-Mitgliedsländer aussuchen, welchem Brief sie den Vorzug geben. Äußerungen aus der alten und der neuen EU-Kommission deuten darauf hin, dass es der des Parlaments sein könnte. Dem könnte Johnson wiederum dadurch entgegenwirken, dass er droht, sich im Falle einer von ihm nicht gewollten Verlängerung nicht mehr an Theresa Mays Heraushalteversprechen in den EU-Gremien zu halten und dort Wünsche von Emmanuel Macron und anderen Politikern zu blockieren.
Dem am 9. September verabschiedeten Parlamentswunsch nach einer Herausgabe der kompletten Kommunikation zum Brexit (vgl. Brexit: Unterhaus verweigert auch nach Inkrafttreten des No-No-Deal-Gesetzes Neuwahlen) kam die britische Regierung bislang nur teilweise nach: Sie veröffentlichte am Mittwoch zwar das bereits im August an die Medien durchgesickerte Worst-Case-Szenario "Yellowhammer", aber nicht alle Mails und Chats der mit der Ausstiegsfrage befassten Regierungsmitarbeiter. Bezüglich ihrer Herausgabe hält man die Forderung für unangemessen.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.