Brexit: Tausend Tage sind ein Tag
Erstaunt blickt die Welt auf die historisch einmalige Misere, in die sich Großbritannien gebracht hat. In einer Woche wird wohl ein Zufallsergebnis das Schicksal des Landes besiegeln
Bekanntlich resümierte Napoleon in seinem Exil auf Elba zerknirscht, dass er so-und-so-viele Schlachten geschlagen und so-und-so-viele Kriege geführt habe, er hernach aber nichts wüsste, was er nicht auch zuvor bereits gewusst habe. Theresa May wird es ähnlich gehen.
Die letzten tausend Tage Brexit brachten im Grunde keinerlei Erkenntnisse. Weder für sie, noch für das britische Parlament. Am Tag der Abstimmung vor knapp drei Jahren waren die Optionen die gleichen wie heute. Bei einer "extremen" Entscheidung droht die Spaltung des Landes. Entweder durch den vollständigen Bruch mit der EU eines No-deal-Brexits oder durch der sang- und klanglose Verbleib in der Union. Beide Entscheidungen würden zwar jeweils knapp die Hälfte der Bevölkerung mäßig befriedigen, denn sie hätte bekommen, was sie wollten, die Brexiteers ihren Brexit oder die Remainer ihren Verbleib. Nur wäre die jeweils andere Hälfte enorm unzufrieden und würde die negativen Folgen der Entscheidungen wortreich beklagen und die unbeendbare Debatte weiter verschärfen.
Die Besonderheit des Brexit liegt nun darin, dass jede Art von Kompromiss diese Spaltung sogar noch verstärken würde. Würde beispielsweise ein Ausstieg in der Form des "Norwegen plus" gewählt, dann würde dieser von den Brexiteers als Nicht-Ausstieg angeklagt werden, während die Remainer sich über die negativen Folgen beklagen würden, wie etwa das verlorene Abstimmungsrecht in der EU. Somit wäre paradoxerweise ein Kompromiss vermutlich noch schlechter für die Stimmung im Lande als eine "extreme" Entscheidung. Dieses Dilemma lag seit Beginn allen Beteiligten klar vor Augen und hat sie in die historisch einmalige Lage gebracht, tausend lange Tage ergebnislos verhandelt zu haben.
Ob für Theresa May dieses Dilemma überhaupt das entscheidende war, ist fraglich, stand sie doch vor einem für sie viel konkreterem Problem durch die Gefahr der Spaltung ihrer konservativen Partei. Am 20.3.2019 durchlitt sie erneut eine jener Parlamentsdebatten, bei der sie mangels Alternative unbeirrbar immer wieder das gleiche sagte: Die Entscheidung der Bevölkerung müsse respektiert werden und der Brexit vollzogen.
Auffällig ist, dass die Premierministerin mittlerweile von keinem einzigen Parlamentsmitglied mehr Unterstützung erhält. Alle Abgeordneten, auch jene der Tories, nutzen ihre Redezeit, um mehr oder weniger unumwunden Theresa May anzuklagen, weil sie entweder a) den Brexit nicht durchführt oder b) sich immer noch anschickt, den Brexit durchzuführen.
Auf der Insel wird längst geklagt, dass den Britten ihr wichtigstes Exportgut auszugehen droht: der britische Humor. Alle Witze wurden längst geliefert und allmählich macht sich Verzweiflung breit. Allerdings gab es die vor knapp drei Jahren auch schon.
My way or the highway!
Selbstverständlich kann das englische Parlament diesen Zustand der Aufschiebung der Entscheidung nicht endlos fortführen und hat sich jetzt in eine nie dagewesene Lage gebracht. Durch den Entscheid des Speakers of the House John Bercow, keine weitere Abstimmung über Theresa Mays Deal mit der EU zuzulassen, ist eine veritable konstitutionelle Krise entstanden, auf die die konservative Partei bislang mit plumper Verleugnung reagiert.
Im Kommentar eines gewissen Erskine May aus dem 19.Jahrhundert steht nachzulesen, dass sich das britische Parlament einer wiederholten Abstimmung gleichen Inhalts entziehen muss. Schließlich könnte jede Regierung ein Parlament dadurch lahmlegen, dass sie diesem den immer gleichen Antrag zur Abstimmung vorlegt. Genau dies muss sich aber die Premierministerin vorwerfen lassen. Sie handle wie eine Person, der der Zugang in einem Club verwehrt worden sei und die am nächsten Morgen mit angeklebtem Bart erscheint, um es erneut zu versuchen. Bei der dritten Abstimmung, die May grundsätzlich noch immer plant, wollte sie nun lediglich ihren falschen Bart austauschen.
Ob ein Antrag in seiner Natur gleich sei, habe der Speaker of the House zu entscheiden. Der Beschluss hierzu erging bereits im Jahre des Herrn 1604. Der Speaker Bercow argumentiert, dass es im Dezember 2018 bereits 146 Reden während dreier Sitzungstage zu Mays Deal mit dem Ergebnis gegeben habe, die Abstimmung um einen Monat zu verschieben. Die darauf folgende Abstimmung habe dann die Regierung mit der höchsten Abstimmungsniederlage einer Regierung in der Geschichte des britischen Parlamentarismus verloren.
Die erneute Abstimmung über ihren Deal, den May ergänzt hatte mit folgenlosen unilateralen Absichtserklärungen, die nicht mehr waren als das verbriefte Recht Großbritanniens, seinen Unmut schriftlich zu bekunden, verlor die Regierung ebenso. Premierministerin May schaffte dabei erneut eine Topplatzierung mit der viertgrößten Niederlage aller Zeiten, weil nur wenige Abgeordnete sich umstimmen ließen. Kurzum, diese Frage darf als parlamentarisch entschieden gelten.
Nicht aber für Theresa May. Was sich bereits vor Monaten prognostizieren ließ, ist nun unleugbar. Der Plan der Premierministerin lautet schlicht: "my way or the highway". Ihr Kalkül ist, dass die Abgeordneten Mays allseits als schlecht erachteten Deal irgendwann werden annehmen müssen. Die Brexitbefürworter, damit sie nicht dafür verantwortlich gemacht werden können, dass der Brexit aufgeschoben und möglicherweise ganz abgeblasen wird. Die Brexitgegner hingegen sind unter Druck, weil es durch das lange Zögern nun doch noch zum Unfall des No-Deal-Brexit kommen kann, der eigentlich per letztwöchigem Parlamentsbeschluss hätte verhindert werden sollen.
Für Mays bizarren Versuch, den ungeliebten und abgelehnten Deal doch noch aus bloßer Zeitnot durchzubringen, wurden zwei fragwürdige Kniffe ausgeheckt. Der erste gilt Verfassungsjuristen als haarsträubend: Die Sitzungsperiode wird kurzerhand beendet und eine neue ausgerufen, womit der Speaker of the House John Bercow ausgehebelt wäre. Denn in einer neuen Periode kann die alte Frage erneut gestellt werden und es muss nicht einmal ein falscher Bart angeklebt werden. Oder aber die Regierung gewinnt eine Abstimmung über die erneute Abstimmung über Mays Deal im Parlament. In beiden Fälle hätte die Regierung eines sicher erreicht, nämlich den Beweis dafür, dass die Entscheidungen des britischen Parlaments letztlich nicht mehr als ein Witz sind.
Niemand will die Macht
Warum wehrt sich das Parlament nicht gegen diese Behandlung? Dies geschieht wohl aus einem simplen und ermattenden Grund: Niemand will die Regierung stürzen, weil deren Job gerade enorm unattraktiv ist. Dies wurde durch ein Abstimmungsergebnis in der letzten Woche deutlich.
Der eher dem konservativen Labourflügel angehörende Hilary Benn, Sohn des legendären Tony Benn, brachte einen ungewöhnlichen Abänderungsantrag zur Abstimmung, indem er dem Parlament das Recht erstreiten wollte, in Zukunft den parlamentarischen Zeitplan und somit die Abfolge der Abstimmungen zu bestimmen. Dadurch könnte die Premierministerin selbst keine eigenen Abstimmungsvorschläge mehr machen und würde zu einer reinen Botin degradiert, die die Entscheidungen des Parlaments bezüglich des Brexit nach Brüssel zu melden hat.
Dieser Antrag war Teil der im Grunde cleveren Labour-Strategie, eine möglichst breite Grundlage für Entscheidungen im Parlament zu finden und in diesem nach Einigungen zu suchen, nachdem die Regierung diese Suche aufgeben zu haben scheint. Labour wählt diesen Weg wohlwissend, dass eine Regierungsübernahme sie letztlich vor die gleiche Zerreißprobe stellen würde wie die Tories. Verständlicherweise empfindet Labour es als unfair, in die Grube geworfen zu werden, die die Konservativen gegraben haben. Das Ergebnis der Abstimmung über das "Benn-Amendement" kam zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Parlamentarier (sogar einige Abgeordnete von Labour) diese Verantwortung schlicht nicht wollen. Für Abgeordnete, die den Brexit stets als einen wichtigen Schritt zum "take back control" ausgaben, ist es zumindest bemerkenswert, dass sie, danach gefragt, diese Kontrolle dann lieber ablehnen.
Die Entscheidung fügt sich ins bisherige Bild vom Brexit. Nigel Farage reagierte seinerzeit auf den wohl größten politischen Erfolg seines Lebens, das gewonnene Brexit-Votum, mit Rücktritt. Die endlich errungene Kontrolle über die Geschicke des Landes delegierte er generös an andere. Auch das Gesicht Boris Johnsons auf der ersten Post-Brexit-Pressekonferenz, bei der er aussah, als habe er gerade den Weihnachtsmann überfahren, sprach Bände. Seine späteren Bemühungen, nach dem Rücktritt David Camerons die Partei zu übernehmen, waren folglich alles andere als unumwunden.
Im Grunde scheint vielen Brexiteers die Rückkehr zum Status quo ante durchaus reizvoll zu erscheinen, denn sie könnten sich dann weiterhin erfolgreich beklagen. Die böse Schlusspointe liegt darin, dass jene, die die Kontrolle zurückerobern wollten, es vollbracht haben, dass Großbritannien nun komplett in der Hand der Europäischen Union ist. Vielen Regierungen in Europa scheint der Geduldsfaden gerissen zu sein und Großbritannien soll nur dann eine Verlängerung des Artikels 50 erhalten, wenn zuvor Mays mit der EU ausgehandelter Deal angenommen wird, was im Moment schlicht unmöglich erscheinen muss. Einzig die Iren plädieren für Milde. Eine größere Schmach ist für die stolzen englischen Brexiteers wohl kaum denkbar.
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