Britische Geheimdienste gehen wieder gegen Web-Veröffentlichungen vor
Geheime Unterlagen des MI5-Inlandsgeheimdientes über Libyen-Affäre im Netz erschienen.
Britische Geheimdienste drohten Zeitungen mit rechtlichen Konsequenzen, falls sie den Inhalt oder die Adresse einer US-Website veröffentlichten, die einen Geheimdienstbericht der höchsten Geheimhaltungsstufe publizierte, der durchgesickert war. Die Drohungen sind die neuesten in einer Serie von Regierungsaktionen gegen Internetveröffentlichungen. Die Kampagne hat bereits zur Schließung von drei Websites geführt, darunter eine bei Yahoo und eine bei Geocities, und dazu, dass Reporter und Redakteure von Geld- und Gefängnisstrafen bedroht sind, wenn sie über Dinge berichten, die sie im Internet lesen.
Das neueste durchgesickerte Dokument ist das geheimste aller in letzter Zeit im Internet erschienenen Dokumente. Jede Seite ist mit dem Vermerk "TOP SECRET DELICATE SOURCE UK EYES A" gekennzeichnet. Es ist auch das erste Dokument aus den Ordnern des britischen Inlandsgeheimdienstes, auch bekannt als MI5, bisher.
Die Bezeichnung "UK EYES A" oder "ALPHA" bedeutet, dass auch amerikanische Agenten den Bericht nie zu sehen bekommen sollten. Die meisten britischen Geheimdienstberichte werden routinemäßig mit amerikanischen Berichten ausgetauscht.
Die Top-Secret-Berichte über lybische Geheimdienstaktivitäten erschienen Freitag abend unter www.cryptome.org/, einer New Yorker Website, die auf die Veröffentlichung neuer Materialien über Geheimdienste, Privatsphäre und Kryptographie-Themen spezialisiert ist. Die populäre, gut besuchte und häufig aktualisierte Site wird vom Architekten John Young als Hobby betrieben. Laut Auskunft auf seiner Web-Seite erreichte ihn der Bericht aus einer anonymen Quelle.
Britische Regierungsvertreter leugneten nicht, dass der Bericht authentisch ist und unternahmen am Samstag Versuche, die Presse von der Berichterstattung über die veröffentlichten Informationen abzuhalten. Die britischen Behörden behaupten, dass die Veröffentlichung von sich auf den Bericht beziehenden Artikeln den Bruch einer gerichtlichen Verfügung darstellen würde und dass sich die Herausgeber der Missachtung des Gerichts schuldig machen würden.
Trotz der Drohungen hat die Londoner Zeitung Observer entschieden, einen detaillierten Bericht über die Affäre in ihrer Sonntagsausgabe zu veröffentlichen. Das, obwohl die Zeitung von für die Regierung arbeitenden Anwälten spezifisch gewarnt worden war, dass sie mit der Veröffentlichung eine Verfügung übertreten würden, ein Verbot jeglicher Berichterstattung, das gegen einen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter gerichtet ist.
Trotz der Drohungen haben sich die britischen Behörden bis Samstag abend noch nicht mit Herrn Young oder seinem Service-Provider in Verbindung gesetzt und die betreffenden Seiten sind immer noch im Netz.
Agent führte britische Geheimdienste an der Nase herum
Die britische Regierung behauptete, dass die durchgesickerten Berichte auf David Shayler zurückgeführt werden können, ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter, der nun in Paris im Exil lebt. Herrn Shaylers Enthüllungen, deretwegen ihn die britische Regierung bereits ausliefern und einsperren lassen wollte, sind den Spionageagenturen seit 4 Jahren ein Dorn im Auge. Der durchgesickerte Bericht bestätigt frühere Behauptungen Shaylers, dass britischen Geheimdiensten der Versuch misslang, den libyschen Agenten Khalifa Ahmad Bazelya zu rekrutieren. Shayler hatte bereits in der Vergangenheit behauptet, dass Bazelya in Großbritannien einreisen durfte und dann den Geheimdienst an der Nase herumführte, während er Geheimdienstarbeiten für das libysche Regime durchführte.
Ergebnis dieses inkompetenten Handelns, so behauptet Shayler, war der Mord an Ali Abuzeid in London am 26.November 1995. Abuzeid war einer von mehreren Libyern, die an einem von britischen Geheimdiensten finanzierten, misslungenen Mordkomplott gegen den libyschen Führer Kolonel Gadaffi ein Jahr zuvor teilgenommen hatten. Er hatte die britische Staatsbürgerschaft erhalten und es wurde ihm ermöglicht, sich im Vereinigten Königreich niederzulassen.
Der höchstgeheime Bericht gibt den Eindruck, dass es nach dem Mord einen Versuch zur Manipulation von Presseberichten durch die Polizei und die konservative Regierung gab, indem die Beteiligung der libyschen Regierung an dem Mord heruntergespielt wurde.
Der Bericht erzählt detailliert von den Aktivitäten des Karrierespions, der britischen und amerikanischen Geheimdiensten bereits aufgefallen war, bevor er nach London kam. Im März 1991 war er aus Äthiopien ausgewiesen worden, weil er angeblich in die Finanzierung von Rebellen verwickelt war, einschließlich der Lieferung von Waffen, die bei der Ermordung eines äthiopischen Ministers verwendet worden waren. Geheimdienstquellen sagen, dass die Waffen in libyschem Diplomatengepäck eingeschmuggelt wurden und dass eine dieser Lieferungen beschlagnahmt wurde.
Er wurde auch verdächtigt, prominentes Mitglied des Revolutionsrats zu sein, der direkt für die Erhängung von 13 regierungskritischen Studenten an der Universität von Tripolis verantwortlich war.
Im Januar 1992 hatte das FBI berichtet, dass Bazelya Verbindungen mit der "Provisional IRA" hatte und mehrmals Dublin aufsuchte, um Kontaktpersonen zu treffen. Während seines Aufenthalts im Vereinigten Königreich war Bazelya regelmäßig in Kontakt mit Musa Kusa, dem gefürchteten Leiter des libyschen Geheimdienstes, der in Frankreich wegen eines terroristischen Anschlags zur Verhaftung ausgeschrieben war. MI5 berichtete, dass Bazelya Kusas "rechte Hand" sei.
Während Bazelyas kurzer Zeit in Großbritannien lebten dort zumindest vier libysche Agenten, die sich als Studenten ausgaben. Bazelya war auch für ein Netzwerk von Spionen zuständig, denen er Beträge von jeweils bis zu 800£ im Monat aus einem "politischem Budget" zahlte. Laut einer Quelle von MI6 kannte Bazelya auch Gadaffi persönlich und empfing ihn in seinem Haus in Libyen. Es wurde auch behauptet, dass er Listen von libyschen Studenten in Großbritannien verfasste, die nicht zu Feierlichkeiten am libyschen Nationalfeiertag erschienen.
Eine seiner spektakulärsten Unternehmungen habe darin bestanden, dass Bazelya britische Universitäten besuchte, wo er mit libyschen Studenten und Akademikern in Kontakt trat. Diese Besuche sollen dazu gedient haben, Informationen für libysche Waffenprogramme zu erhalten.
Der Bericht behauptet auch, dass Bazelya hinter einer Propaganda-Kampagne stand, "die darauf zielte, die britische Öffentlichkeit zu überzeugen, dass Libyen nicht für die Sprengung von Pan Am Flug 103 über Lockerbie, Schottland, verantwortlich war."
Große Teile der Informationen in dem Bericht sind deutlich Ergebnis von Telefonabhöraktionen, auf die mit dem Begriff "Telecheck"-Information verwiesen wird. Andere Details stammen von Agenten, sowohl in Libyen als auch Großbritannien. Eines der weiteren Ziele des Ausspionierens von Bazelya war eine Zeitungsredakteurin, Victoria Brittain vom Londoner The Guardian, die, wie MI5 behauptete, Gelder aus Libyen erhalten hatte. Wie sich später herausstellte, stammten die Gelder aus anderen Quellen und gingen an einen Rechtsanwalt zur Verteidigung in einer Verleumdungsklage.
Der Inhaber der New Yorker Website, John Young, meinte, er werde sich britischem Druck nicht beugen:
"Ich werde die Seiten im Netz lassen. Wenn nötig kann ich Bilder von dem echten Bericht hinzufügen. Das ist Information im öffentlichen Interesse und das Web ist der geeignete Ort dafür."
Übersetzung: Armin Medosch