Britisches Corona-Gesetz: "Die größte Expansion exekutiver Macht seit einer Generation"
Bürgerrechtsorganisationen fordern die Abschaffung, die Johnson-Regierung hebelt das Parlament mit vielen ministeriellen Erlassen auch mit Grundrechtsveränderungen aus
Am 30. September wird im britischen Unterhaus über die Verlängerung des im März nach nur eintägiger Parlamentssitzung beschlossenen Corona-Gesetzes debattiert. Dass dies überhaupt möglich ist, verdankt sich dem Einsatz britischer Bürgerrechtsorganisationen. Weil sie Druck machten, muss das Gesetz alle sechs Monate neu zur Abstimmung gebracht werden. Die Forderung von Organisationen wie "Liberty" oder "Big Brother Watch" für den 30. September ist klar: Das Corona-Gesetz muss weg.
Die seit rund sechs Monaten andauernde Covid-19 Krise hat Großbritannien ordentlich durchgeschüttelt. Ohnehin schon deutlich sichtbare soziale und politische Verwerfungen treten dadurch noch krasser hervor. Zehntausende Menschen sind gestorben, während der konservativen Regierungspartei nahestehende Großkonzerne wie zum Beispiel Serco Milliardengewinne mit ihnen zugeschobenen Verträgen für die Durchführung von Test- und Nachverfolgungsverfahren machten. Die Infektionszahlen steigen wieder massiv, auch weil lohnabhängige Menschen in den vergangenen Wochen durch eine massive Regierungskampagne aus dem Home Office zurück an ihre Arbeitsplätze getrieben worden waren.
Vor diesem Hintergrund machen sich britische Bürgerrechtsorganisationen zunehmend Sorgen über den Zustand der britischen Demokratie und Gewaltenteilung. In einem Meinungsbeitrag für die konservative Tageszeitung "Daily Telegraph" sprach Silkie Carlo, der Direktor von "Big Brother Watch", von "der größten Expansion exekutiver Macht seit einer Generation". Eine wichtige Rolle kommt hier ministeriellen Erlässen zu. Seit Beginn der Coronakrise habe es 350 Erlasse mit Bezug auf die Pandemie in Großbritannien gegeben.
Solche Erlasse ermöglichen es der britischen Regierung, rechtlich für alle in Großbritannien geltende, bindende Maßnahmen zu treffen, ohne diese vorher dem Parlament vorlegen zu müssen. Die Regierung von Premierminister Boris Johnson nutzt diese Methode wie ein Maschinengewehr. Drastische Grundrechtseinschränkungen werden teils nur Minuten vor deren Inkrafttreten über soziale Medien veröffentlicht.
Einschränkung der Versammlungsfreiheit
Nur 30 Minuten vor Inkrafttreten verkündete die Regierung zum Beispiel einen Erlass via Twitter, welcher Menschenansammlungen mit mehr als sechs beteiligten Personen verbietet. Dieser Erlass gilt seit dem 14. September und errichtet der Versammlungsfreiheit sehr hohe Hürden. Das britische Demonstrationsrecht ist eigentlich sehr liberal. Für Proteste braucht es üblicherweise keine Voranmeldung bei der Polizei. Man kann, muss aber vor Durchführung einer Demonstration keine Vorbesprechungen mit staatlichen Behörden etwa für die Regelung von Verkehrsflüssen rund um eine Demonstration durchführen.
Personen, die seit dem 14. September eine Demonstration im öffentlichen Raum mit mehr als sechs Beteiligten organisieren, drohen nun Geldstrafen in Höhe von 10.000 Pfund. Ausgenommen vom Demonstrationsverbot sind nur bestimmte Organisationen, etwa "politische Körperschaften" oder wohltätige Organisationen. Doch auch sie müssen nun strenge Auflagen erfüllen, Demonstrationen bei der Polizei anmelden und dieser einen Hygieneplan übermitteln, obwohl die Polizei keinerlei fachlichen Kompetenzen für den Gesundheitsschutz hat.
Schon vor dem 14. September konnte die Polizei drakonisch agieren. Da lag die Höchstzahl für eine legale Menschenansammlung bei 30 Personen. In einem an die Mitglieder des britischen Oberhauses adressierten Dossier listet "Big Brother Watch" einige Fallbeispiele auf. So wollte am 25. August Ken Hinds, ein Nachbarschaftsaktivist mit schwarzer Hautfarbe aus London, eine antirassistische Demonstration organisieren. Am 25. August kontaktierte ihn die Londoner Polizei und drohte mit Inhaftierung, sollte er die Demonstration abhalten wollen. Mr. Hinds sei weder ein Unternehmen, noch eine wohltätige Organisation, keine philanthropische Organisation, keine öffentliche Körperschaft und keine politische Körperschaft. Deshalb sei sein Demonstrationsaufruf ein Aufruf zu Verstößen gegen ministerielle Erlässe und somit strafbar." Inzwischen haben laut "Big Brother Watch" allein in London 20 Organisatoren von Demonstrationen Strafbefehle in Höhe von 10.000 Pfund pro Person erhalten.
Kritik aus dem Parlament
Deutliche Kritik an der Regierung kommt inzwischen auch aus dem Parlament selbst. So hat der parlamentarische Menschenrechtsausschuss im September ein ausführliches Papier über die Menschenrechtsimplikationen der Regierungsmaßnahmen in Bezug auf die Bekämpfung von Covid-19 veröffentlicht. Darin heißt es unter anderem: "Gute Kontrolle führt zu guter Regierung, und gute Kontrolle benötigt die rechtzeitige Übermittlung von Informationen an das Parlament, damit genug Zeit besteht um Fragen an Minister zu stellen und diese rechenschaftspflichtig halten zu können."
Und dann fett geschrieben, damit Boris Johnson es auch versteht: "Wichtige Ankündigungen sollten im Parlament und nicht über Nachrichtenkanäle oder andere Pressekonferenzen durchgeführt werden, insbesondere wenn die Menschenrechte so Vieler auf so vielfältige Weise bedroht sind."
Will die Regierung zu erwartende Proteste wegen steigender Arbeitslosigkeit durch Coronamaßnahmen verhinder?
Für den Herbst wird in Großbritannien mit einem massiven Wachstum der Erwerbslosigkeit gerechnet. Die Wirtschaft war ohnehin angeschlagen, mit den stark wachsenden Infektionszahlen kommt sie erst recht nicht klar. Die Bank of England rechnet bis zum Ende des kommenden Monats mit einer Verdoppelung der Arbeitslosenzahlen von derzeit 3.9% auf 7.5%. Das wären 1.5 Millionen Erwerbslose.
Dem Anstieg der Arbeitslosenzahlen wird eine Zwangsräumungswelle folgen, welche ihrerseits die Obdachlosenzahlen ansteigen lassen wird. Arbeitslose werden sich die oft horrenden Mieten am privatisierten britischen Wohnungsmarkt nicht leisten können. Schon seit einiger Zeit bereiten sich britische Mietergewerkschaften darauf vor, gegen die kommenden Zwangsräumungen Widerstand zu leisten.
Dieser Widerstand wird naturgemäß auf der Straße stattfinden. Die gesamte Coronazeit hindurch gab es immer wieder große Mobilisierungen auf der Insel, etwa die Black-Lives-Matter-Proteste oder Schülerdemos gegen einen unfairen, diskriminierenden Prüfungsalgorithmus. Die oben geschilderten Eingriffe in das Demonstrationsrecht durch die Regierung werden genutzt werden, um mögliche Proteste im Herbst zu behindern. Ob die Regierung damit durchkommt, steht auf einem gänzlich anderen Blatt.