Brot und Spiele für die EU

50 Jahre Römische Verträge

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50 Jahre europäische Familie, 50 Jahre Römische Verträge. Es gibt einige Gründe zu feiern: Sieht man vom Krieg gegen Jugoslawien ab, hat das moderne Europa nie eine längere Friedensphase erlebt. Die Reisefreiheit erfreut vor allem die Bürger der EU, die es sich leisten können, ihren Urlaub in anderen Ländern zu verbringen. Millionen von Euro lassen EU-Kommission, Regierungen und Kommunalverwaltungen springen, um den Geburtstag der Europäischen Gemeinschaft zu begehen. Gedenkmünzen, Musikwettbewerbe, Ausstellungen und Konferenzen in fast allen europäischen Hauptstädten sollen die Bedeutung der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25.März 1957 hervorheben. EU-Bürger sind aufgefordert, ihre Vorstellungen, Wünsche und Visionen zu Europa kundzutun.

Am 5. März 1957 wurden die RömischenVerträge unterschrieben. Bild: europa.eu

Wie schon oft in der Geschichte wollen die Zeremonienmeister einen Mythos schaffen; ein historisches Ereignis zu etwas machen, was es nicht gewesen ist. Es geht darum, Bürgernähe zu suggerieren, wo Ohnmacht und Unzufriedenheit vorherrschen. Und mit Identitätspolitik soll sich ein Gemeinschaftsgefühl breit machen, wo knallharte Interessengruppen ihre Profite maximieren.

Die Zeremonien sollen die Krise der EU überdecken, die nach dem Nein zum Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden im Frühjahr 2005 offen zu Tage getreten ist: Die EU ist weder sozial, noch ist sie demokratisch. Dieses Europa fällt weit hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution zurück. Das sagen jedenfalls viele der Teilnehmer der wohl größten europäischen Versammlungen, den Europäischen Sozialforen, zu denen sich seit 2002 in Florenz, dann Paris, London und schließlich 2006 in Athen jeweils mehrere zehntausend EU-Kritiker getroffen haben. Aber die Kritik reicht weit über das Spektrum der Sozialforen hinaus, an einem Punkt wird sie sogar von konservativen Politikern wie dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog geteilt, der den „Mangel an Demokratie und der Gewaltenteilung in der EU“ kritisiert.

Tatsächlich hat das EU-Parlament kein Recht auf eigenständige Gesetzesinitiativen – dieses Recht ist der Exekutive, der EU-Kommission, vorbehalten. Das bedeutet einen eklatanten Bruch mit dem Prinzip der Gewaltenteilung, die seit dem Ende des Absolutismus als Grundlage demokratischer Gemeinwesen gilt. Die anti-soziale Ausrichtung der Verfassung und der EU-Verträge ist für Roman Herzog, der auch den Vorsitz der ultraliberalen Friedrich von Hayek-Stiftung inne hat, kein Problem, dafür um so mehr für die sozialen Bewegungen und Teile der Gewerkschaften: Die Sozialsysteme der EU-Mitgliedsstaaten werden im Konkurrenzkampf um die besten Investitionsbedingungen zerrieben. Während die Regierungen der Mitgliedsstaaten längst eine gemeinsame Außen-, Handels-, Innen- und Währungspolitik anstreben oder längst bewerkstelligt haben, lassen sie sich von Konzernen, ihren Verbänden und willfährigen Wirtschaftswissenschaftlern daran hindern, europaweit einheitliche soziale Mindeststandards oder einheitliche Unternehmenssteuern festzulegen. Und auch andere brennende Probleme wie ein effektiver Umweltschutz werden regelmäßig mit dem Argument der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ausgehöhlt.

1979 werden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments erstmals direkt gewählt. Bild: europe.eu

Adenauer: "Ich weiß nicht einmal, was ich alles unterschrieben habe"

Die Grundlage für diese Politik legten 1957 die Römischen Verträge, also der Vertrag zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG und der Euroatom-Vertrag. Märkte, Märkte über alles, so könnte man die Programmatik des ersten Vertrages zur Europäischen Gemeinschaft zusammenfassen. Eine immer engere wirtschaftliche Zusammenarbeit sollte Motor und Wegbereiter für die später folgende politische Einigung werden. Problematisch nur, dass diese wirtschaftliche Zusammenarbeit von Anfang an von den privatwirtschaftlichen Interessen dominiert wurde. Die Unternehmerverbände waren schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg dank des Marschallplanes und der damit einhergehenden großzügigen Hilfe aus den USA wieder gut aufgestellt und beeinflussten die Politik in Brüssel von Anfang an, während die vom Nationalsozialismus geschundene Arbeiterbewegung in Europa erst viele Jahre später anfing, sich ernsthaft um die europäische Dimension der Politik zu kümmern.

Euphorisch sprach damals der CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer von der Freude, die er mit Abermillionen Menschen teile, als er die Römischen Verträge der sechs Mitgliedsstaaten unterzeichnete. In Wirklichkeit hielt sich die Anteilnahme der Bevölkerung in Grenzen, und die Zeitungen berichteten zumindest in Deutschland damals eher emotionslos und in aller Kürze über die Römischen Verträge. Das Nachrichtenmagazin der Spiegel zitierte Adenauer sogar mit der Aussage: „Ich weiß nicht einmal, was ich alles unterschrieben habe.“

Konstruktionsfehler im Aufbau Europas sind bis heute nicht behoben

Aber dennoch gilt der Vertrag zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Grundlage der Europäischen Union, die seitdem von einer großen Koalition der Volksparteien ausgeformt und vorangebracht wird. In den 50er Jahren allerdings war die Debatte um die Zukunft Europas noch von inhaltlichen Kontroversen geprägt. Der Oppositionsführer der SPD, Kurt Schumacher, wollte die Einigung Westeuropas auch als Bollwerk gegen den Ostblock. Deshalb müsse die EWG vor allem demokratischen und sozialen Mindestanforderungen und nicht nur „konservativ-kapitalistischen“ Ansprüchen genügen.

Bis zu seinem Tode 1952 prägte der SPD-Parteivorsitzende Kurt Schumacher wesentlich die Haltung der SPD zur Europa. Er forderte für den europäischen Zusammenschluss ein Parlament mit vollen Rechten und eine aktive Konjunkturpolitik. Damit wollte er auch in Krisenzeiten die Vollbeschäftigung sichern. Ähnliche Vorbehalte gegen den von den konservativen eingeschlagenen Weg der europäischen Einigung gärten nach dem Tode Schuhmachers weiter in der Partei und beeinflussten auch die Debatte über die EWG im Bundestag. Unter anderem forderten SPD-Abgeordnete legislative Rechte für das Europaparlament und wollten auch die Sozial- und Fiskalpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft koordinieren. Das gelang nicht. Aber im Taumel des allgemeinen Wirtschaftswachstums in Westeuropa ließ auch die Mehrheit der Sozialdemokraten ihre Vorbehalte schließlich fallen und stimmte den Römischen Verträgen zu.

Die Konstruktionsfehler im Aufbau Europas sind bis heute nicht behoben, weder in den zwischenstaatlichen Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza, noch im erneut umworbenen Verfassungsvertrag. Stattdessen soll den Bürgern das Gefühl vermittelt werden, sie könnten in sogenannten Bürgerkonferenzen das Schicksal Europas mitbestimmen.

Als Ende Februar zweihundert Bürgerinnen und Bürger in Berlin zusammentrafen, um eine Vision zu Europa zu entwickeln, war die Enttäuschung groß. Möglichst „in einem Satz“ sollten dort die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen gesellschaftlichen Schichten ihre Vision von Europa zusammenfassen und Bilder malen unter dem Motto: „Wer bin ich in Europa?“ Statt ausgiebigen Diskussionen gab es „Beschäftigungstherapie“, wie die 21-jährige Medizinstudentin Laura Olbrich aus Duisburg resümiert. Völlig ohne Bürgerbeteiligung haben die Staats- und Regierungschefs hingegen die „Berliner Erklärung“ erarbeitet, die einige Weichen für die künftige Entwicklung der EU stellen soll. Aber die Staatenlenker hätten ja, so beruhigt der ehemalige Präsident des Europaparlaments und SPD-Mitglied Klaus Hänsch, „im Namen ihrer Völker“ entschieden.

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