Brüder Sürücü: Freispruch in der Türkei aus Mangel an Beweisen

Gedenkstein an der Ecke Oberlandstraße/Oberlandgarten (Februar 2015). Bild: LezFraniak / CC BY-SA 3.0

Die deutsche Justiz sollte Interesse an der Aufklärung des Ehrenmordes haben

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Am 7. Februar 2005 wurde die damals 23jährige kurdisch-stämmige Berlinerin Hatun Sürücü an einer Bushaltestelle in der Nähe ihrer Wohnung erschossen. Als mutmaßlicher Täter wurde ihr jüngerer Bruder Ayhan verhaftet und 2006 zu einer Jugendstrafe von 9 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Seine damalige Freundin Melek beschuldigte dessen beiden älteren Brüder Mutlu und Alpaslan der Mittäterschaft: Mutlu soll die Waffe besorgt und Alpaslan in der Nähe des Tatorts moralischen Beistand gegeben haben.

Freisprüche in Deutschland und in der Türkei

Trotzdem wurden die der Mittäterschaft angeklagten Brüder im ersten Prozess 2006 freigesprochen. Dieses Urteil wurde 2007 in einem Revisionsverfahren aufgehoben. Bevor in Deutschland das Verfahren neu aufgerollt werden konnte, setzten sie sich in die Türkei ab. 2013 begannen türkische Behörden gegen sie zu ermitteln. Deshalb wurde am vergangenen Dienstag in Istanbul gegen die Brüder Sürücü verhandelt. Der Prozess endete mit Freispruch aus Mangel an Beweisen. U.a. deshalb, weil die Hauptbelastungszeugin nicht vernommen wurde.

Melek und ihre Mutter leben im Zeugenschutzprogramm. Während des ersten Prozesses 2006 betrat sie den Gerichtssaal nur mit Schussweste und in Begleitung von Bodygards, weil sie Todesdrohungen erhalten hatte. Bis heute können sie sich in Deutschland nicht sicher fühlen, obwohl die Sürücü-Brüder schon lange in der Türkei leben. Mutlu und Alpaslan setzten sich dahin ab und Ayhan wurde dorthin abgeschoben, nachdem er seine Haftstrafe verbüßt hatte.

Männer beraten über einen "Sündenfall"

Diese Anschuldigung von Melek brachte etwas ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit, das bis dato nicht registriert worden war: Ehrenmorde. Und zwar nicht irgendwo im tiefsten Anatolien, sondern in Deutschland. Das bedeutet, die männlichen Mitglieder der Familie setzen sich zusammen und beraten über einen "Sündenfall". Meist sind Frauen und Mädchen die "Sünderinnen", weil sie sich nicht gemäß den fundamental-islamischen Wertvorstellungen ihrer Familie verhalten.

Betroffen sein können aber z.B. auch homosexuelle männliche Familienmitglieder. Der Familienrat spricht daraufhin eine "Fatwa" aus, ein offiziell illegales islamisches Rechtsgutachten, das für strenggläubige Muslime jedoch ein obligatorisches Gebot darstellt.

Nicht selten bedeutet die "Fatwa" den Tod der "Sünderin", oder des "Sünders", die keine Möglichkeit zu ihrer Verteidigung erhalten. Ein Familienmitglied wird dann auserkoren, diese Tat auszuführen. Sehr häufig sind das minderjährige männliche Familienmitglieder, da diese ein geringeres Strafmaß zu erwarten haben.

Radikalisierte Brüder

Die Ermordung Hatun Sürücüs ist ein klassischer Fall eines Ehrenmordes: Sie wurde als Mädchen in eine tief religiöse Familie hinein geboren, die das Schicksal, genauer gesagt die Arbeitssuche, nach Berlin verschlagen hatte. Dort besuchte sie ein Gymnasium, von dem sie abgemeldet wurde, weil sie als Teenager gegen ihre Familie rebellierte.

Statt sie Abitur machen zu lassen und ihr so die Chance auf einen guten Beruf und ein selbständiges Leben zu ermöglichen, brachte die Familie die widerspenstige Tochter nach Istanbul, wo sie gegen ihren Willen mit einem Cousin verheiratet wurde.

In dem Film und dem daraus entstandenen Buch "Ehrenmord - Ein deutsches Schicksal" beschreiben die rbb-Journalisten Matthias Deiß und Jo Goll, wie die Brüder sich radikalisieren: Mutlu findet bei der Bundeswehr zum Glauben, seinen jüngeren Brüder Ayhan nimmt er mit in die Ashabi-Kehf-Moschee in Wedding.

Laut Focus hat die Gemeinde "nur ein paar Dutzend Mitglieder, einige von ihnen fühlen sich Metin Kaplan zugehörig - jenem Fanatiker, der sich selbst als den 'Kalifen' von Köln bezeichnete, gegen Demokratie und Israel hetzte und schließlich aus Deutschland ausgewiesen wurde".

Auch gegen die Zwangsheirat rebellierte Hatun und kehrte schwanger nach Berlin zurück. Dort brachte sie ihren Sohn Can zur Welt und begann eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin. Wenige Tage nach ihrem Tod hätte sie die Gesellenprüfung gemacht. Danach wollte sie mit ihrem Sohn nach Süddeutschland ziehen und ihr Fachabitur machen.

Trotz allen Streits brach sie den Kontakt zu ihrer Familie nie ab. Offensichtlich ahnte sie die Gefahr, in der sie schwebte. Denn sie regelte bei der zuständigen Betreuerin des Jugendamts, das Can, falls ihr etwas zustieße in eine Pflegefamilie gegeben werden. Auf gar keinen Fall solle er bei ihrer Familie aufwachsen.

Hilfe der deutschen Behörden?

Wie die Berliner Anwältin Seyran Ateş der Welt gegenüber äußerte, "war das Urteil zu erwarten". Die Publizistin, auf die 1984 in einer Frauen-Beratungsstelle geschossen wurde, weil sie türkische und kurdische Frauen im Falle häuslicher Gewalt unterstützte, bemängelte, dass das "Gericht kaum Anstrengungen unternommen habe, die Hauptbelastungszeugin zu einer Aussage zu bewegen".

Die heute unter neuer Identität lebende Melek hätte mit Hilfe der zuständigen Behörden in Deutschland vielleicht vernommen werden können. Denn auch die deutsche Justiz sollte ein deutliches Interesse an der vollständigen Aufklärung dieses Falles haben.