Brüssler Betroffenheit
Nach dem gescheiterten EU-Gipfel soll der politische Fahrplan überdacht werden. An der grundsätzlichen Linie ändert das nichts
Zumindest in einem Punkt waren sich die Staats- und Regierungschefs am Samstag weitgehend einig. “Europa ist nicht in einer Krise”, sagte Ratspräsident Jean-Claude Juncker, “Es ist in einer tiefen Krise.” Auch der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein französischer Amtskollege Jacques Chirac teilten diese Auffassung. Tatsächlich hatten die Befürworter des Einigungsprozesses in seiner bisherigen Form in kurzer Folge zwei Niederlagen einstecken müssen.
Nachdem sich die Gipfelteilnehmer schon zu Beginn des Treffens eine “Denkpause” für das Verfassungsverfahren verordneten (Das Europa der Bürger), war in der Nacht auf Samstag in Brüssel auch der Finanzgipfel gescheitert. Dabei sollte der EU-Haushalt für den Zeitraum von 2007 bis 2013 festgelegt werden. Während die Verfassungsgespräche “im ersten Halbjahr 2006” weitergehen sollen, ist der Fortgang der Haushaltsverhandlungen völlig offen.
In zwei Wochen übernimmt mit Großbritannien ausgerechnet das EU-Mitglied die Ratspräsidentschaft, von dem das Scheitern der Finanzverhandlungen herbeigeführt wurde. Regierungschef Anthony Blair hatte in Brüssel vehement auf dem “Britenrabatt” bestanden.
Ursachen der europäischen Krise
Um die politische Stagnation zu durchbrechen, kündigten sowohl Juncker als auch Kommissionspräsident José Manuel Barroso einen “Plan D” an. Das “D” allerdings sollte weniger für eine Denkpause als vielmehr für Dialog und Debatte stehen. Doch mit wem soll die geführt werden?
Das Problem liegt nicht ausschließlich zwischen den Länderkommissionen, sondern vor allem im Verhältnis der europäischen Bevölkerung zum Projekt. In den meisten Bündnisstaaten nämlich setzen die Menschen das Vorhaben mit Sozialabbau und neoliberaler Deregulierung gleich. Besonders in den Debatten vor dem Referendum in Frankreich wurde das tiefe Misstrauen deutlich, mit dem die breite Bevölkerung der Europäischen Union gegenübersteht (Das NON triumphiert). Trotzdem ist es ausgeschlossen, dass am Ende der “Denkpause” in Brüssel eine grundsätzliche Umkehr der kritisierten Politik steht. Neoliberale und militärische Inhalte (Stichwort: Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) werden auch weiter auf der Tagesordnung stehen. Mit oder ohne verfassungsrechtlicher Legitimation.
Eine “breite Bürgerbeteiligung”, wie sie von dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac schon als Konsequenz aus dem französischen Nein gefordert geworden war, ist nicht eingeplant. In den vergangenen Wochen, besonders nach dem gescheiterten Gipfel, wurde allein der Abstand zwischen der Europäischen Politaristokratie und der Bevölkerung deutlich. Die Frage ist nun, welche politischen Konsequenzen diese Erkenntnis mit sich bringt.
Nach der Zustimmung des Bundesrates zur EU-Verfassung Ende Mai hatten Aktivisten mit einem riesigen “Non” (Nein) vor dem Bundesratsgebäude in Berlin deutlich gemacht, “dass das Votum nicht repräsentativ für die Meinung der Menschen in Deutschland ist”. Die aktuelle Debatte um Demokratie in der Europäischen Union mag auch hierzulande einen Denkanstoss geben. Dann etwa, wenn die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat in Brüssel als “deutsches Ja” verkauft wird.
Zermürbungs- oder Salamitaktik?
Notwendig ist ein solcher Prozess, weil eine “Denkpause” in Brüssel nicht ewig dauern wird. Jetzt schon werden Optionen zur Umgehung der Referendumsergebnisse in Frankreich und den Niederlanden diskutiert. So könnten die Abstimmungen einfach wiederholt werden, wenn der Zeitpunkt, durch Umfragen ermittelt, günstig erscheint. Eine solche Manipulation demokratischer Prozesse macht die polnische Regierung derzeit vor. Während alle EU-Staaten ihre Abstimmungen über die EU-Verfassung konsequenterweise absagten, erklärte Warschau in der vergangenen Woche, an den Plänen festhalten zu wollen. Der Grund: Eine Mehrheit der Bürger würde derzeit für das Dokument stimmen. Man stelle sich diese Vorgehen einmal bei Bundestagswahlen vor.
Die Wiederholung von Abstimmungen bis zum gewünschten Ergebnis hat es in der jüngeren Geschichte der EU bereits mehrfach gegeben: 1992 etwa, als die Dänen ihre Meinung zu dem Maastrichter Vertrag erklären sollten. Oder 2001, als die Iren ihr Votum zum Nizza-Vertrag abgaben. Denkbar ist aber auch, dass die Kernelemente der Verfassung Stück für Stück durchgesetzt werden. Ein “Europa der zwei Geschwindigkeiten” würde bei besonders unpopulären Maßnahmen auch verhindern, dass sich die Proteste über die Staatsgrenzen in der gesamten EU formieren. Demonstrationen in den Hauptstädten Europas gegen Stellenabbau und Sozialkürzungen? Ganz so weit soll die europäische Einheit schließlich nicht gehen.