Brutalisierung der Demokratie
Angriffe, Pöbeleien und Bedrohungen gegen Politiker, Mandatsträger und Behördenvertreter nehmen zu. Doch neu sind sie nicht
Henriette Reker (parteilos) habe "Hochverrat" begangen und Beihilfe zum "millionenfachen Rechtsbruch" bei dem Zuzug von Flüchtlingen geleistet. "Ich wollte, dass die völlig realitätsferne Herrscherklasse, die das Volk, das Sorgen hat, als Ratten und Mischpoke beschimpft, wieder Angst vor dem Volkszorn hat," sagte Frank S. in Prozess nach der lebensgefährlichen Messerattacke, begangen am 17. Oktober 2015, auf die heutige Kölner Oberbürgermeisterin (Fast Lebenslang für Reker-Attentäter). Dem sächsischen Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) und dessen Ehefrau wurde am 3. Oktober in Dresden beim Spießrutenlauf durch die aufgebrachte Menge unter Augen und Ohren der Polizei zugerufen: "Du musst Dich verantworten und Dein Sohn genauso. Ihr kommt dran!"
Ende September berichtete der "Spiegel" , die Zahl politisch motivierter Angriffe auf Politiker in Deutschland sei "erschreckend hoch". Bezug nehmend auf eine Antwort der Bundesregierung zu einer Anfrage der Grünen-Fraktion, wurden laut Bundesinnenministerium bis dahin im Jahre 2016 insgesamt 813 Delikte "gegen Amts- und Mandatsträger" gezählt. Darunter seien 18 Gewalttaten. Zu den anderen Delikten gehörten etwa Nötigung, Bedrohung, Sachbeschädigungen, Volksverhetzung oder Brandstiftung. 384 Vorfälle seien demnach eindeutig rechten Tätern zuzuordnen. Von Januar bis Mitte September seien 97 Übergriffe aus dem linken und 34 aus dem "Ausländer"-Spektrum begangen worden. Nicht genauer politisch zugeordnet werden konnten 298 Taten.
Verbale oder reale Militanz gegen Politiker, Rufmord oder Mord sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht neu, auch wenn die Berichterstattung über die Vorfälle in Dresden diesen Eindruck Anfang Oktober erwecken konnte. Die linksextreme RAF ermordete neben Polizisten, Fahrern oder Angestellten herausragende Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft. Anlässlich der Annäherungspolitik gegenüber dem "Ostblock" und des Kniefalls in Warschau von Willi Brandt kam es von Rechtsextremen zur Aktion "Brandt an die Wand". Vertriebenenverbände nannten den SPD-Bundeskanzler einen "Volksverräter".
Zimperlich gingen auch Musiker mit Politikern oder Behördenvertretern nicht um. Die heute eher unbekannte, sich als linksradikal verstehende Punkband "Stosstrupp" sang etwa in den 1980er Jahren im Song "Im Namen des Volkes", man müsse Richter und Staatsanwälte, "die Euch bestrafen, Euch verraten" erhängen. Ironisch besang die Punkband "Inferno" den seinerzeit neu gewählten Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) alias "Birne muss Kanzler bleiben", der "den Amis ins Arschloch" krieche. Die "Terrorgruppe" spottete in "Angela" über ein "Girl mit dem Pisspottschnitt", das zum Zeitpunkt des Songs Bundesvorsitzende der CDU und noch nicht Kanzlerin war. Die Kultband für Punks, Anarchisten und Linksextremisten, "Slime", vermischten Anfang der 1980er Jahre im Song "Nazis raus!" die Nazivergangenheit von Politikern und Entscheidungsträgern, befand, dass es in Wirtschaft und der Regierung "Nazis" gebe und rief dazu auf, "die Ratte[n]" zu töten. Eine andere Punkband, die heute Kultstatus in der Szene genießt und "Canalterror" heißt, rief via Songtext generell dazu auf, "Staatsfeind" zu sein. Auf der konspirativ produzierten und später indizierten CD "Live in Teterow - 30. August 1997" singen demgegenüber beispielsweise neonazistische "Liedermacher" im Song "Nehmt die Waffen" in einer Strophe: "Parlamente, Quasselbuden, da haben sie agiert, die Knechte der Juden, räuchert sie aus, schlagt sie zu Brei, der Schande ein Ende - Deutschland befreit."
Ist mit dem Fall der Mauer auch der antifaschistische Schutzwall in manchen Köpfen zerbröselt?
Der MDR stellte in einer Umfrage fest, dass 55 Prozent der AfD-Wähler die - rechtsradikal geprägten! - Proteste in Dresden am Tag der deutschen Einheit als angemessen ansahen. Erstaunlicherweise fanden auch 27 Prozent der Teilnehmer jener Umfrage, die sich selbst als Wähler der Linken einstuften, diese Proteste als angemessen. Ist mit dem Fall der Mauer nicht nur diese pulverisiert worden, sondern auch der antifaschistische Schutzwall in manchen Köpfen? Was bewegt Linke dazu, Proteste mit zum Teil offen rechtsextremem und rassistischem, bisweilen auch vulgär-sexistischem, antidemokratischem und politikfeindlichem Gestus wie in Dresden als gut zu bewerten? Der Querfront-Gedanke der "Mahnwachen"-Bewegung vielleicht?
Das, was am 3. Oktober bei den direkten Aktionen gegen die Politiker verbal zelebriert wurde, war offenbar nur in dieser Vehemenz möglich, weil die Einsatzleitung zum Schutz der Festgäste falsch agierte. Doch bezüglich der Quantität sind Medien und Politik den Rechtsradikalen auf den Leim gegangen. In Deutschland gab es seit Jahrzehnten schon heftigere Proteste, wenn Linke, Gewerkschaften und Friedensbewegung protestierten. Bundeskanzler Helmut Kohl wurde etwa 1991 in Halle mutmaßlich von Linken mit Eiern beworfen. Als 1992 rund 350.000 Menschen gegen Rassismus demonstrieren kam es zu erheblichen Gegenprotesten durch Linke und Antifaschisten, die der Politik Doppelzüngigkeit und geheuchelten Antirassismus vorwarfen:
Einige hundert Vertreter der linksautonomen Szene hatten sich vor der Rednertribüne eingefunden. Dort sollte der Schirmherr der Veranstaltung, Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU), die Hauptrede halten. Als Weizsäcker mit seiner Ansprache beginnen wollte, regnete es Eier und Farbbeutel. Ein paar Steine flogen durch die Luft. Die Polizei griff ein. Zum einen schützte sie den Bundespräsidenten mit Schildern gegen die Wurfgeschosse. Zum anderen versuchte sie, die aggressive linksautonome Menge zu zerstreuen. Obwohl beides nur teilweise gelang: Nach ein paar Minuten hatte die Polizei die Situation zumindest soweit unter Kontrolle, dass Weizsäcker mit seiner Rede beginnen konnte. Aufgrund der angespannten Lage hielt er sie aber in einer kürzeren Fassung. Ein gellendes Pfeifkonzert sorgte dafür, dass seine Worte zum Teil kaum zu verstehen waren.
Die tragische Demonstration
1993 blockierten Linke, Antifaschisten und Linksautonome die Sitzung des Bundestages in Bonn anlässlich des so genannten Asylkompromisses. Joschka Fischer, Außenminister der rot-grünen Bundesregierung, wurde von einem Friedenskämpfer auf dem Grünen-Sonderparteitag in Bielefeld 1999 mit einem Farbbeutel beworfen. Pfiffe und Buh-Rufe ernteten Politiker bei Kundgebungen des DGB zum 1. Mai, etwa 2003 Bundeskanzler Gerhard Schröder oder 2013 die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (beide SPD). Auf einer DGB-Großdemonstration gegen das Freihandelsabkommen TTIP in Berlin zeigten Demonstranten eine Guillotinen-Attrappe für Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD), manche vermuteten jedoch, dies ging möglicherweise auf Personen aus dem Querfront-Lager zurück.
Seit vielen Jahren werden in Aachen die Karlspreis-Verleihungen durch lautstarke Gegenproteste von linker und Friedensbewegung begleitet, deren Kontinuität und Lautstärke "Pegida" in Dresden blass dastehen lassen. 2014 rief man Bundespräsident Joachim Gauck und anderen Ehrengästen zu, sie seien "Kriegstreiber", "Kriegshetzer" und "Terrorist". Ähnliches und noch viel mehr durften sich in Aachen auch andere Preisträger und Gäste anhören, etwa Merkel 2008, US-Präsident Bill Clinton 2000 oder der britische Premier Tony Blair 1999. In Einzelfällen flogen Eier, Tomaten oder Wasserbomben in Richtung der Preisträger und Gäste — oder die Proteste drangen durch die Rathausfenster lautstark bis in den Krönungssaal.