Brutalisierung der Demokratie
Seite 3: Angriffe und Anschläge auf Räumlichkeiten oder Wahlkreisbüros von Politikern und Parteien
- Brutalisierung der Demokratie
- Rechte Pöbeleien: Nach dem Vorbild "National befreiten Zone" erfolgen Nadelstiche, direkte Angriffe und Drohungen
- Angriffe und Anschläge auf Räumlichkeiten oder Wahlkreisbüros von Politikern und Parteien
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Türkisch-stämmige Bundestagsabgeordnete sahen sich seit der Armenien-Resolution Todesdrohungen, Schmähungen und Beleidigungen durch türkische Nationalisten ausgesetzt, unterdessen gab es diesbezüglich die ersten Geldstrafen. Dass nicht nur Extremisten verroht und enthemmt agieren, zeigt ein Beispiel aus der kleinen Gemeinde Hürtgenwald, gelegen zwischen Aachen und Köln im Kreis Düren. Dort mussten sich Vertreter des Gemeinderates kürzlich von besorgten Eltern anhören, sie seien "Kinderschänder" und man müsse eine Granate ins Rathaus werfen. Anlass war der Beschluss, in dem ländlichen Gebiet eine Grundschule zu schließen respektive sie mit einer anderen zusammenzulegen.
Seit Jahren gibt es immer mehr Angriffe und Anschläge auf Räumlichkeiten oder Wahlkreisbüros von Politikern und Parteien. Betroffen sind nahezu alle politischen Lager und Parteien. War die politische Ideologie der Täter nicht immer erkennbar, etwa im Januar 2016 nach Schmierereien am Wahlkreisbüro von Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU), so zeichneten Linksradikale im Oktober für den Farbanschlag auf das Wahlkreisbüro der umstrittenen deutschen Bundestagsabgeordneten Bettina Kudla (CDU) in Leipzig nach deren "Umvolkung"-Tweet verantwortlich. Von Farbangriffen oder Sprühattacken waren auch das Büro der AfD-Politikerin und Europaabgeordneten Beatrix von Storch sowie das Privathaus des Brandenburger AfD-Fraktionschef Alexander Gauland betroffen.
Die AfD hatte auch den Leak von Mitglieder- und Besucherdaten der Parteitage in Bremen und Stuttgart durch Linksradikale zu beklagen. Auf die Autos von Parteichefin Frauke Petry und von Storch wurden Brandanschläge verübt. Letztgenannte wurde im Februar in Kassel von einem Antifa-Spaßaktivisten mit einer Torte beworfen. Parteichef Jörg Meuthen ereilte im niedersächsischen Seevetal im August dasselbe Schicksal.
Dass die rechtspopulistische Partei solche Angriffe zuweilen jedoch überzeichnet darstellt und propagandistisch ausschlachtet, war Mitte 2013 aufgefallen, als Linksautonome in Bremen die Bühne bei einer Rede des damaligen Parteichefs Bernd Lucke stürmten. Angeblich sei einer der Linksradikalen mit einem Messer bewaffnet gewesen, verbreiteten Partei und Polizei, wofür die Ermittler später aber keine Hinweise fanden.
Die AfD und deren Online-Sympathisantenumfeld sind jedoch selbst nicht zimperlich und tragen unter dem Deckmantel angeblicher Meinungsfreiheit zur Radikalisierung bei. So kommentierte etwa Mitte September ein Facebook-User auf dem Profil der AfD in Düren zu Kanzlerin Merkel: "schaltet die Hexe aus". Eine Userin befand dort im August zu Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU): "die Alte ist krank, die gehört in die Irrenanstalt". Im August hatten verschiedene User auf dem Profil der AfD in der Städteregion Aachen über Vizekanzler Gabriel via Facebook kommentiert, dieser gehöre "ZURÜCKENTWICKELT UND ABGETRIEBEN", sei ein "Arschloch" und ein "fett Sack". Ebendort nannte ein User als Kommentartor im August Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) ein "Schweinsblasengesicht".
Bevor der Kommentar gelöscht wurde, konnte man über mehrere Stunden auf dem Facebook-Profil des für die AfD in den Aachener Stadtrat gewählten Lokalpolitiker Markus Mohr im August 2016 einen mit drei Likes garnierten User-Kommentar lesen, wonach die Kanzlerin "Jüdin und keine Deutsche [ist]. Somit ist klar wessen Interessen sie vertritt!" Auf dem Profil der AfD in Heinsberg waren im Herbst 2015 Facebook-Nutzer-Kommentare einsehbar, wonach Bundespräsident Gauck "Verrat am deutschen Volk" begehe, ein "Knallkopf" sei und "einen Kopfschuss beide Beine weg" habe.
Selbst hochrangige Politiker der AfD sind für ihre scharfe Rhetorik bekannt. Markus Frohnmaier, Pressesprecher von Parteichefin Petry, schwärmte einst davon: "Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk und nur für das Volk gemacht — denn wir sind das Volk." Als dieser sein Parteiamt noch nicht bekleidete, konnte man unter einem dem Vorsitzenden der AfD Aachen zugeschriebenen Nutzernamen auf "PI-News/Politically Incorrect" lesen, der "Staatsschutz" sei "hinter mir her, da ich einen Provinzpolitiker unserer Stadt als Volksverräter, Arschloch, Kretin und Pisser bezeichnete". Aktuell ermitteln die Behörden gegen Dubravko Mandic, Vizevorsitzender des baden-württembergischen AfD-Landesschiedsgerichts, wegen einer Fotomontage aus den Nazigrößen beim Kriegsverbrecherprozess von Nürnberg sowie den Gesichtern von Merkel, Gauck und anderen Politikern.
Durch Extremisten ermordete Politiker gab es in der neueren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland keine, anders etwa als 2011 in Norwegen durch den rechtsextremen Massenmörder Anders Behring Breivik oder 2016 im Zuge des Brexit-Wahlkampfes in Großbritannien, wo ein Rechtsextremist die Politikerin Jo Cox ermordete. Henriette Reker überlebte den Angriff vor einem Jahr nur dank einer Notoperation. Frank S. hatte ihr ein großes Jagdmesser in den Hals gerammt und sie lebensgefährlich verletzt. Die Klinge hatte ihre Luftröhre durchtrennt und einen Brustwirbel getroffen. In einer Stellungnahme zum Jahrestag dankte sie allen Menschen, die sie unterstützt und die ihr geholfen haben:
Der Anschlag, der mich getroffen hat, galt der Demokratie und der Humanität in unserem Land in einer Zeit, in der viele tausende Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Terror fliehen, darauf angewiesen sind, dass wir sie unterstützen. […] Ich lasse mich von dem, was vor einem Jahr geschehen ist, nicht abschrecken. Ich bin froh, dass viele Menschen in unserer Stadt diese Einstellung teilen und bei der Betreuung und Integration der Flüchtlinge mit anpacken. Ich danke ihnen dafür von ganzem Herzen.
Henriette Reker
Abzuwarten dürfte dennoch bleiben, ob Menschen, die sich überwiegend ehrenamtlich für das Gemeinwohl und die Demokratie oft im lokalen Klein-Klein engagieren, ähnlich robust sind. Gehören diese Ehrenamtler für diejenigen, die "Altparteien" und "Establishment" angreifen und bekämpfen, doch auch zu den verhassten "Politbonzen" und "Volksverrätern". Wie verkraften sie Einschnitte ins Privatleben, wenn die radikale oder sogar militante Graswurzelrevolution von rechts sowie die "schleichende Brutalisierung unserer Gesellschaft", wie es der Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer umschrieb, weiter expandieren?
Eine längst schon eskalierte Sozialneiddebatte verschärfen und zur Fragilität der Demokratie beitragen dürfte zudem der Umstand, dass Sitzungen von Gremien und Räten infolge anonymer Gewalt- und Bombendrohungen kostspielig nur unter Polizeischutz (Oersdorf) stattfinden können oder ein im Rathaus patrouillierender Sicherheitsdienst (Bocholt) notwendig ist. Ausgerechnet jene Kreise, die derlei durch ihre Drohkulissen mit bewirken, werden das dann wohl propagandistisch ausschlachten.