Bulgarien: "Ohrfeige für die gesamte politische Klasse"
Europawahl offenbart Schieflage der bulgarischen Demokratie, zwei Drittel der Bulgaren haben sich der Stimme enthalten
Die Bulgaren gelten mehrheitlich als Anhänger der Europäischen Union (EU); europäischen Politikern und Institutionen vertrauen sie mehr als ihren eigenen. Aber sie verweigerten sich zu zwei Dritteln der Stimmabgabe bei der Wahl zum europäischen Parlament. Dies ist nachvollziehbar, schließlich standen nur bulgarische Politiker zur Wahl. Und denen gönnen die wenigsten Bulgaren gut zwanzig Mal höhere Abgeordnetendiäten als der monatliche Durchschnittslohn im "ärmsten Land der Europäischen Union".
Ein Mann gewinnt aber seit vierzehn Jahren in Bulgarien so gut wie alle Wahlen, zu denen er sich persönlich oder mit seiner Partei "Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB) stellt: Ministerpräsident Boiko Borissov. Einzig bei den Präsidentschaftswahlen im November 2016 musste sich die Kandidatin seiner Partei dem von der "Bulgarischen Sozialistischen Partei" (BSP) nominierten Luftwaffengeneral Rumen Radev geschlagen geben.
Vor den Europawahlen prognostizierten Meinungsforschungsinstitute den oppositionellen Sozialisten eine Siegeschance. Schließlich ging aber Borissovs GERB mit 31,07% der Wählerstimmen erneut als Wahlsieger hervor, mit deutlichem Vorsprung von knapp 7% vor der BSP. Die Partei der Bulgarischen Türken "Bewegung für Rechte und Freiheiten" (DPS) behauptete sich mit 15,55% auf ihrem angestammten dritten Rang, danach folgten die nationalistische "Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation" (VMRO) mit 7,36% und das den traditionellen Konservativen entstammende Parteienbündnis "Demokratisches Bulgarien" (DB) mit 6,06%. Diese Parteien werden ihre Abgeordneten ins Europaparlament senden.
Borissovs in Bulgariens post-kommunistischer Geschichte einzigartige Siegesserie bei Wahlen kann einerseits als Ausweis politischer Stabilität gewertet werden. Andererseits hat er mit zwei Rücktritten vom Amt des Regierungschefs in den Jahren 2013 und 2016 selber dieses Jahrzehnt zu einem politisch höchst volatilen gemacht. Vier reguläre und drei kommissarische Regierungen lösten sich innerhalb von nur fünf Jahren ab.
Korruption und kein Ende
Misst man Borissov an seiner erklärten Priorität bei seiner Amtsübernahme als Regierungschef im Sommer 2009, der Korruption im Lande ein Ende zu bereiten, fällt die Bilanz seiner mit Unterbrechungen eine Dekade währenden Regierungszeit bescheiden aus. Seit Jahren behauptet sich sein Land beim Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International (TI) ebenso auf den letzten Rang aller EU-Mitgliedsstaaten wie bei der Pressefreiheitsrangliste von Reporter ohne Grenzen (RoG).
Auch den Wahlkampf zu den Europawahlen überschatteten Korruptionsaffären, inhaltliche Debatten zu europapolitischen Themen gab es kaum. Über Wochen hinweg drehte sich in Bulgariens Medien alles um "Apartementgate", die Enthüllung, dass mehrere Minister und Funktionsträger des Regierungslagers Luxusapartments zu Spottpreisen erworben oder EU-Mittel zur vorgeblichen Errichtung touristischer Gasthäuser zweckentfremdet hatten.
In Reaktion darauf entließ Borissov mehrere Minister und auch seinen Stellvertreter beim Parteivorsitz Tsvetan Tsvetanov. Mit seiner Säuberungsaktion sicherte er sich wohl seinen Wahlerfolg. Dennoch gaben lediglich 607.194 Wähler seiner Partei ihre Stimme, mehr als eine halbe Million weniger als bei den Parlamentswahlen 2017. Da diesmal nicht einmal jeder Zehnte der 6,3 Millionen Stimmberechtigten für GERB votiert hat, sehen Borissovs Kritiker die Legitimität seines Führungsanspruchs bereits in Frage gestellt.
Aus Protest gegen von GERB angestrebte Änderungen des Wahlrechts sind die Sozialisten bereits im Februar 2019 aus der Bulgarischen Nationalversammlung ausgezogen. BSP-Vorsitzende Kornelia Ninova hoffte, durch außerparlamentarische Opposition die Europawahlen gewinnen zu können und damit den Sturz der von ihr für korrupt und unfähig erklärten rechtsnationalistischen Regierungskoalition aus GERB und Vereinigten Patrioten (VP) einzuleiten. Da diese Rechnung nicht aufgegangen ist, musste Ninova von ihrem Parteivorsitz zurückgetreten. Inzwischen nehmen die Sozialisten am Parlamentsbetrieb wieder teil.
"In innere Angelegenheit anderer Parteien mische ich mich nicht ein", kommentierte Borissov am vergangenen Dienstag am Rande des Treffens des Europäischen Rats in Brüssel Ninovas Rücktritt. "Viel wichtiger ist mir, dass mir meine Parteifreunde von der Europäischen Volkspartei (EVP) für meinen Sieg im direkten Wahlkampf gegen den Vorsitzenden der Partei Europäischer Sozialisten (PES) Sergej Stanischev applaudiert haben." Mit Angela Merkel und Viktor Orban zählt Borissov im Kreise der europäischen Staats- und Regierungschefs zu den Veteranen.
Bündnis mit Nationalisten
Auf einer Wahlkampfveranstaltung in der Sofioter Arena Armeec sprachen Borissov und der EVP-Kandidat für den Vorsitz der EU-Kommission Manfred Weber zu fünfzehntausend GERB-Anhänger. Borissov lobte Weber dabei "als einen Propagandisten Bulgariens". Weber revanchierte sich mit anerkennenden Worten über Bulgariens Schutz der EU-Außengrenze zur Türkei: "Das Erste, wofür ich als Vorsitzender der EU-Kommission arbeiten werde, ist, dass Bulgarien zum vollgültigen Mitglied des Schengener Raums wird", versprach er.
Bulgarien werde "unter der Führung von Boiko Borissov in der europäischen Familie respektiert", twitterte Weber vor seiner Abreise aus Sofia, "wir als EVP sind stolz auf Bulgarien. Zusammen kämpfen wir gegen Nationalisten und Populisten." Für diese Äußerung musste sich Weber von Kritikern unfreiwillige oder absichtliche Verkennung der politischen Situation in Bulgarien vorwerfen lassen, kann doch von einem Kampf Borissovs gegen Nationalisten keine Rede sein.
Seit dem Frühjahr 2017 bildet seine Partei GERB eine Koalitionsregierung mit den Vereinigten Patrioten. Was Chauvinismus und Minderheitenfeindlichkeit angeht, stehen die drei in ihr zusammengeschlossenen nationalistischen Parteien Ataka, VMRO-BND und "Nationale Front zur Rettung Bulgariens" (NFSB) westeuropäischen Nationalpopulisten wie FPÖ, AFD oder "Front National" (FN) in nichts nach. Dass die Koalition zwischen GERB und VP vor zwei Jahren überhaupt zustandekommen konnte, war mit rationalen Maßstäben kaum zu fassen.
Jahrelang waren Ataka-Führer Volen Siderov, VMRO-Chef Krasimir Karakatschanov und NFSB-Vorsitzende Valeri Simeonov untereinander heillos zerstritten. Und so manches Mal beschimpften sie Boiko Borissov als "größten Mafioten in der bulgarischen Politik". Allein ihre berechtigte Befürchtung, jede für sich könne jeweils an der 4-Prozenthürde zum Einzug in die Bulgarische Volksversammlung scheitern, veranlasste Ataka, VMRO-BND und NFSB dazu, sich zusammenzuschließen. Um in der Koalition mit der erklärtermaßen pro-europäischen GERB erstmals Regierungsverantwortung übernehmen zu können, schwächten die Parteiführer ihre bis dahin explizit europakritische Rhetorik ab und sorgten auch für einen gemäßigteren Ton in ihren parteieigenen TV-Sendern Alfa TV, Skat TV und Bulgaria 24.
Trotz seines Wahlerfolgs bei den Europawahlen erscheint keineswegs sicher, dass es Borissov gelingen wird, im Bündnis mit den Vereinigten Patrioten erstmals seine Legislaturperiode als Ministerpräsident zu vollenden. Immer wieder ist es im Verlaufe der vergangenen zwei Jahre zu aggressiven Scharmützeln zwischen Siderov, Simeonov und Karakatschanov gekommen.
Die Differenzen zwischen der russlandfreundlichen Ataka und den russlandkritischen Parteien VMRO-BND und NFSB waren auch so unüberwindlich, dass sie sich nicht auf eine gemeinsame Wahlliste für die Europawahlen verständigen konnten. Lediglich der VMRO-BND gelang nun mit gut 7% der Einzug mit zwei Abgeordneten ins EU-Parlament. Ataka und NFSB erlitten dagegen mit Stimmanteilen von jeweils etwas über 1% katastrophale Wahlschlappen. Dies dürfte dem Verhältnis der drei nationalistischen Parteien untereinander nicht gerade förderlich sein.
Bereits in seiner ersten Wahlanalyse spekulierte Atata-Führer Volen Siderov über die "sexuelle Orientierung" des VMRO-Abgeordneten im EU-Parlament Angel Dschambaski und unterstellte dessen Partei Wahlbetrug: "VMRO hat es geschafft, weil sie einen Deal mit GERB und der DPS abgeschlossen haben, um dieses Resultat durch Stimmenkauf zu erreichen. Ich habe Informationen dazu und werde diese den zuständigen Organen übergeben", sagte Siderov.
Staatspräsident Rumen Radev wertete den Ausgang der Europawahlen als "Ohrfeige für die gesamte politische Klasse". Tatsächlich haben sie die Partei politikverdrossener Nichtwähler als die in Bulgarien inzwischen mit Abstand größte erwiesen. Um künftig das Funktionieren der bulgarischen Demokratie zu gewährleisten, bedürfte es dringend politischer Kräfte, die die Politikverdrossenen wieder zur Teilhabe am demokratischen Willensbildungsprozess motivieren können. Solche sind in Bulgarien aber nicht in Sicht.