Bundesinnenminister: 800.000 Asylbewerber werden erwartet
Der Bundesinnenminister gibt sich überrascht, Folgen für die Außenpolitik sind nicht vorgesehen
Mit Spannung waren die Zahlen erwartet worden. Es hieß, Bundesinnenminister de Maizière würde in diesem Jahr von 750.000 Asylsuchenden ausgehen. Der Minister setzte einen drauf und erklärte gestern, dass man 800.000 Flüchtlinge erwarte. Das wären deutlich mehr als die über 400.000 im Jahr 1992, die damals bereits zu einer Welle von ausländerfeindlicher Gewalt geführt haben. Die Flüchtlingswelle sei nicht zu erwarten gewesen, versichert der Minister, was aber vor allem von Blindheit zeugt.
800.000 ist eine ganze Menge, viermal so viele wie letztes Jahr, es könnten aber durchaus noch mehr werden. Schließlich greift nun auch ein Nato-Partner in den Krieg in Syrien ein und lässt es auf einen Bürgerkrieg mit der PKK im eigenen Land ankommen, was zu neuen Flüchtlingsströmen führen wird. Allerdings müsste man auch erwähnen, dass jedes Jahr ein paar hunderttausend Ausländer Deutschland auch wieder verlassen - und dass die deutsche Bevölkerung in der Anzahl rückläufig ist und älter wird.
In Syrien selbst sind schnell keine großen Änderungen zu erwarten. Selbst wenn eine der großen Konfliktparteien, der Islamische Staat oder das Assad-Regime zusammenbrechen würde, werden die Menschen weiter versuchen, aus dem heillos zerstörten Land zu fliehen. Die Nachbarländer Jordanien, der Libanon, die Türkei und der Irak sind weit über der Grenze der Belastbarkeit. Die Flüchtlinge, die dort zunächst Unterschlupf gefunden haben, werden trotz der virtuellen und realen Mauern weiter versuchen, in ein sicheres Land mit besseren Lebensbedingungen zu gelangen. Das kann ihnen niemand verübeln. Auch aus Afghanistan werden trotz militärischer Intervention, an der auch die Deutschen beteiligt waren, mehr Menschen fliehen, weil kaum etwas besser wurde.
Immerhin machte de Maizière klar, dass Deutschland durch die Zuwanderung gefordert, aber nicht überfordert ist. 800.000 Asylbewerber stellen ein Prozent der Bevölkerung dar, im Libanon sind fast 1,2 Millionen Flüchtlinge registriert. 20 Prozent der Gesamtbevölkerung in dem Land, das viel ärmer als Deutschland ist, sind Flüchtlinge.
Lapidar erwähnt die Bundesregierung, dass die Zahlen so hoch seien wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, und dass der Grund "unter anderem kriegerische Auseinandersetzungen und politische Verfolgung" seien. Dass die Mitursache für die Flüchtlingsströme aus dem Balkan, aus Afghanistan und Syrien/Irak, aus Libyen und Mali und Co. militärische Interventionen der Nato-Länder, allen voran der USA, waren, soll offiziell nicht thematisiert werden. Damit wird aber bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise eine Debatte über die künftige Außenpolitik (und die Vermeidung von Flüchtlingsströmen) ausgeblendet, auch wenn gesagt wird, dass man Fluchtursachen bekämpfen will.
Das ist fatal, weil sich Deutschland unter Schwarz-Rot noch mehr als bislang in eine vornehmlich von den USA vorgegebene militärische Interventionspolitik hat einbinden lassen und trotz negativer Erfahrungen mehr militärische Verantwortung übernehmen will.
Obgleich auch der Bundesinnenminister klar stellt, dass die Flüchtlingszahlen nicht kurzfristig geringer werden, auch wenn ein leichter Rückgang aus den Westbalkanstaaten, also aus Ländern, die anstreben, Mitglied der EU zu werden, erkennbar sei, soll es bei der bloßen Krisenbewältigung bleiben. Man müsse halt neue Wege und "pragmatische Lösungen" finden. Dazu gehört auch, die anderen EU-Länder dazu zu bringen, mehr Asylbewerber aufzunehmen.
Politisch Verfolgten müsse Schutz gewährt werden, sagte de Maizière. Sie müssten aufgenommen und integriert werden. Rhetorisch versicherte er, dass jeder Flüchtling das Recht habe, "in Deutschland würdig, sicher und anständig aufgenommen zu werden. Hass, Beleidigungen und Angriffe auf Asylbewerber und Flüchtlingsheime sind unseres Landes unwürdig. Wir werden dem mit aller Härte entgegentreten". Davon ist allerdings bislang noch nicht viel zu bemerken. Und de Maizière gibt sich auch bedeckt bei der Frage, wie viel Geld der Bund den Ländern und Gemeinden geben wird. Entscheidungen werde es erst im September geben.