Bundesregierung muss "Streikbremse" nachbessern
Tarifeinheitsgesetz berücksichtigt dem Bundesverfassungsgericht nach Interessen kleiner Gewerkschaften nicht ausreichend
Gestern urteilte das Bundesverfassungsgericht mit sechs zu zwei Stimmen unter den Aktenzeichen 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1477/16, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 2883/15 und 1 BvR 1588/15, dass das von SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles entworfene "Tarifeinheitsgesetz" gegen die Verfassung verstößt, weil "Vorkehrungen dagegen fehlen, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden." Deshalb muss die Bundesregierung der Entscheidung des Ersten Senats nach durch eine Neuregelung bis spätestens 31. Dezember 2018 dafür sorgen, dass das Tarifeinheitsgesetz der in Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützten Koalitionsfreiheit nicht mehr widerspricht.
Im Rahmen seines weiten Handlungsspielraums kann der Gesetzgeber dem Bundesverfassungsgericht nach "Rahmenbedingungen aus Gründen des Gemeinwohls verändern", um für "angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen" zu sorgen. Das Ziel des Tarifeinheitsgesetzes, "zur Sicherung der strukturellen Voraussetzungen von Tarifverhandlungen das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander zu regeln" ist nach Ansicht der Karlsruher Richter "legitim, […] auch wenn nicht gewiss ist, dass der gewollte Effekt tatsächlich eintritt."
Schutzvorkehrungen fehlen
Aber auch wenn Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes "keine Bestandsgarantie für einzelne Koalitionen" enthält, garantiert er doch "die Koalitionsfreiheit ausdrücklich für jedermann und alle Berufe", weshalb er "staatliche Maßnahmen" verbietet, "die gerade darauf zielten, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen heraus zu drängen oder bestimmten Gewerkschaftstypen, wie etwa Berufsgewerkschaften, generell die Existenzgrundlage zu entziehen." Auch Vorgaben "über das eigene Profil" und die "Abgrenzung nach Branchen, Fachbereichen oder Berufsgruppen" darf der Gesetzgeber den Gewerkschaften nicht machen.
Dass im Tarifeinheitsgesetz "Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft fehlen" halten die Richter für unverhältnismäßig, weil "nicht auszuschließen [ist], dass auch im Fall der Nachzeichnung [eines Tarifvertrages] deren Arbeitsbedingungen und Interessen mangels wirksamer Vertretung in der Mehrheitsgewerkschaft unzumutbar übergangen werden."
Neue Bundesregierung muss nachbessern
Bis die Bundesregierung, die sich nach der Bundestagswahl am 24. September möglicherweise anders zusammensetzen wird, die Neuregelungsverpflichtung umgesetzt hat, darf ein Tarifvertrag einer großen Gewerkschaft wie der SPD- und Grünen-nahen Dienstleistungsgewerkschaft Verdi den einer kleinen (und eventuell erfolgreicheren) wie der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) nur dann verdrängen, "wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat." Diese Verdrängung war ein zentraler Punkt des Tarifeinheitsgesetzes.
Darüber hinaus halten die Verfassungsrichter die Arbeitsgerichte dazu an, "Tarifverträge im Kollisionsfall so auszulegen, dass die durch eine Verdrängung beeinträchtigten Grundrechtspositionen möglichst weitgehend geschont werden." Wo dies möglich ist, sollen "Regelungen kollidierender Tarifverträge [auch] nebeneinander bestehen" dürfen.
"Um unzumutbare Härten zu vermeiden", dürfen zudem "längerfristig bedeutsame Leistungen, auf die sich Beschäftigte in ihrer Lebensplanung typischerweise einstellen und auf deren Bestand sie berechtigterweise vertrauen" nicht verdrängt werden. Als Beispiele dafür nennt das Bundesverfassungsgericht "Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit." Können die Gerichte unzumutbare Härten nicht ausreichen vermeiden, muss der Gesetzgeber auch hier nachregeln. Die Kollisionsregelung darf darüber hinaus ausschließlich so ausgelegt werden, dass "die Verdrängung eines Tarifvertrags nur solange andauert, wie der verdrängende Tarifvertrag läuft und kein weiterer Tarifvertrag eine Verdrängung bewirkt."
Geteilte Meinungen in den Gewerkschaften
Während Verdi-Vizechefin Andrea Kocsis nach dem Urteil über "wenig Licht" und "viel Schatten" klagte, freute sich der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky darüber, dass der "Angriff auf die Berufsgewerkschaften" zwar nicht "klar zurückgewiesen", aber doch "in erster Linie abgewehrt" worden sei, weshalb er "die nächsten 150 Jahre" für seine Gewerkschaft als "gesichert" ansieht. Rudolf Henke, der Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, sprach von einer "Anerkennung" und "Stärkung" der Berufsgewerkschaften Weniger optimistisch gaben sich Ilja Schulz, der Präsident der Pilotenvereinigung Cockpit, der weiter eine "Verdrängung" fürchtet, und Klaus Dauderstädt vom Deutschen Beamtenbund, der mit einer Flut von Gerichtsverfahren rechnet.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles sah sich nach der Bekanntgabe der Entscheidung gestern trotz der diagnostizierten Verfassungswidrigkeit als Gewinnerin, weil das Gesetz nicht für nichtig erklärt wurde, sondern nachgebessert werden darf. Ihren Worten nach schwächt es nicht den Wettbewerb zwischen Gewerkschaften (und schadet damit Arbeitnehmern, die sich eventuell mit niedrigeren Tarifabschlüssen und schlechteren Arbeitsbedingungen zufrieden geben müssen), sondern "stärkt die solidarische Interessenvertretung".