Bundesregierung will Interpol reparieren
Einige Mitgliedstaaten nutzen die internationale Polizeiorganisation zur Verfolgung von missliebigen Personen. 80.000 Haftbefehle werden deshalb neu überprüft
Die Polizeiorganisation Interpol darf ihre internationalen Haftbefehle nicht zur politischen Verfolgung einsetzen. Ihr ist deshalb nach Artikel 3 der Statuten jede "Betätigung oder Mitwirkung in Fragen oder Angelegenheiten politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakters" verboten. Trotzdem wird der Interpol-Kanal von den mittlerweile 194 Mitgliedstaaten zur politisch motivierten Fahndung genutzt.
Das in Deutschland für Haftbefehle zuständige Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) prüft aus diesem Grund die Entsendung von "geeignetem Personal", um bei Interpol sämtliche bestehenden Haftbefehle auf einen eventuellen Verstoß gegen die Interpol-Statuten durchzusehen. Die Mitarbeiter sollen aus den Landesjustizverwaltungen rekrutiert werden. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat schon seit dem 1. Januar eine Volljuristin in eine entsprechende Kontrollkommission bei Interpol abgeordnet.
Interpol wird auch als "internationale kriminalpolizeiliche Organisation" (IKPO) bezeichnet. Sie verwaltet die sogenannten "Rotecken", in denen Personen zur polizeilichen Fahndung und Festnahme ausgeschrieben sind. Neben den "Rotecken" gibt es weitere "Buntecken" in den Farben Gelb (vermisste Personen), Schwarz (Tote), Grün (Warnungen) sowie Blau (Bitte um den Aufenthaltsort der Ausgeschriebenen). Interpol speichert Angaben zu ausgeschriebenen Personen, Sachen oder Ausweisdokumenten in sogenannten ASF-Datenbanken ("Automated Search Facility"). Die ASF-Datei für die Personenfahndung heißt "Nominals" und enthält laut dem Bundesinnenministerium mehr als 200.000 Fahndungen, gegenüber 2014 ein Zuwachs von 30,6 Prozent.
Bei heiklen Fällen entscheidet das Auswärtige Amt
Internationale Fahndungsersuchen werden über das Schengener Informationssystem oder die nationalen Koordinierungsbüros von Interpol verteilt. In Deutschland ist die Zentralstelle in beiden Fällen das BKA. Allerdings werden nicht alle Interpol-Haftbefehle auch an alle Zentralstellen übermittelt. So erfährt das BKA nur dann von einer Fahndung, wenn es selbst zum Empfängerkreis gehört.
Jede in Deutschland eingehende "Rotecke" wird vom BKA geprüft. Bei "besonderer Bedeutung in politischer, tatsächlicher oder rechtlicher Beziehung" wird das Ersuchen dem Bundesamt für Justiz zur Bewilligung vorgelegt. Das Amt soll über die nationale Umsetzung der Fahndung "im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt" entscheiden. Nach einer Verfahrensänderung vor drei Jahren muss das Bundesamt für Justiz bei jedem Eingehen einer Interpol-Mitteilung dem Bundesjustizministerium Bericht über einen möglichen Verstoß gegen Artikel 3 erstatten. Dort wird dann erneut das Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen geprüft.
Wird ein Verstoß gegen Artikel 3 gefunden, muss das BKA das Interpol-Generalsekretariat darüber informieren. Laut dem Bundesinnenministerium sind derartige Benachrichtigungen durch das BKA "in der Vergangenheit verschiedentlich erfolgt". Das Ergebnis der Überprüfung wird anschließend im BKA-internen Vorgangsbearbeitungssystem vermerkt. Eine Statistik über die Anzahl nicht bewilligter Fahndungsersuchen führt die Behörde in Wiesbaden nicht. Angeblich aus diesem Grund kann das BKA die Staaten, bei denen ein Artikel 3-Verstoß gefunden wurde, nicht auflisten.
80.000 Altfälle
Mehrere Interpol-Fahndungen hatten sich in der Vergangenheit als Missbrauch zur politischen Verfolgung herausgestellt, zu den bekannteren Fällen in Deutschland gehörten der deutsche Schriftsteller Doğan Akhanlı und der ägyptisch-britische Journalist Ahmed Mansour, der von der Bundespolizei in Berlin-Tegel verhaftet wurde.
Wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit hat Interpol vor einem halben Jahr eine "Notices and Diffusion Task Force" (NDTF) zur Prüfung der vorhandenen Ersuchen "Fahndungsaltbestand" eingerichtet. Der Arbeitsgruppe sollen insgesamt fünf Mitarbeiter angehören, ihre Arbeitsaufnahme war für den 1. Januar angekündigt. Die hohe Zahl von deutschem Personal (Mitarbeiter aus Landesjustizverwaltungen sowie des BKA) erklärt die Bundesregierung damit, dass Deutschland drittgrößter Beitragszahler zum Haushalt von Interpol ist und zu den Mitgliedstaaten gehört, die "im größten Umfang kostenfrei Personal entsenden".
Von der nachträglichen Überprüfung sind rund 80.000 Fahndungen betroffen, die vor 2016 initiiert worden sind. Es werden nicht alle "Buntecken" überprüft, sondern nur die "Rotecken" zur Festnahme und Auslieferung. Nachvollziehbar ist diese Entscheidung nicht, denkbar ist, dass auch "Blauecken" zur Aufenthaltsermittlung für die politische Verfolgung instrumentalisiert werden.
Deutschland soll kein "sicherer Hafen" werden
Bis zur Einrichtung der "Task Force" hatte Interpol die alten Fahndungen nur sporadisch auf einen Missbrauch zur politischen Verfolgung überprüft. Das Generalsekretariat hatte bei 130 Haftbefehlen einen Artikel 3-Verstoß festgestellt und die Zentralbüros darüber informiert. Aus welchen Staaten diese stammten, will die Bundesregierung geheim halten. Zur Begründung heißt es, die dort verfolgten Personen könnten Länder wie Deutschland, in denen die Fahndungen dann annulliert würden, anschließend als "sicheren Hafen" betrachten.
Jedoch ist nicht nur Interpol für einen etwaigen Missbrauch seiner Fahndungsinstrumente verantwortlich. Trotz der Mitteilung von Interpol, dass 130 Ersuchen ausgesondert werden sollen, haben das Bundesamt für Justiz und das Auswärtige Amt entschieden, fünf dieser Fahndungen zu behalten und sie in nationale Haftbefehle umzuwandeln. Aus welchen Ländern diese stammen, teilt die Bundesregierung nicht mit.
Möglich macht dies eine Bestimmung der Interpol-Statuten. Denn das Verbot der Nutzung von "Buntecken" zur politischen Verfolgung gilt für die ausschreibende Polizei, aber nicht für die Behörde, die eine Ausschreibung entgegennimmt. Formal sind die deutschen Behörden deshalb nicht an eine Artikel 3-Entscheidung des Generalsekretariats in Lyon gebunden. Der Bundesregierung zufolge hat eine entsprechende Mitteilung von Interpol zu einem politisch motivierten Fahndungsersuchen lediglich eine "Indizwirkung" für die deutsche Entscheidung über dessen Rechtmäßigkeit.
Mitteilung, ob Gesuchte Asyl erhalten haben
Die Europäische Union ist zwar nicht zuständig für die Verbesserung der Interpol-Haftbefehle. Trotzdem hatte die EU-Kommission nach der Festnahme von Doğan Akhanlı ein Treffen mit Behörden aus Deutschland, Belgien und Spanien abgehalten. Anschließend kündigte die Kommission an, zur Erarbeitung eines gemeinsamen Vorgehens der Mitgliedstaaten einen Workshop abzuhalten. Die Veranstaltung hat jedoch nicht stattgefunden.
Mehr Aussicht auf Erfolg haben die Anstrengungen zur Qualitätsverbesserung bei Interpol. Zukünftig sollen die nationalen Zentralbüros das Sekretariat in Lyon bei allen "Zweifeln" an der Einhaltung der Interpol-Statuten informieren. Die hierfür zuständige Abteilung, die alle bei Interpol eingehenden Fahndungsersuchen bearbeitet, wird vermutlich personell und finanziell besser ausgestattet. Außerdem sollen die ausstellenden Behörden schon bei der Beantragung eines internationalen Haftbefehls mitteilen, ob die betroffene Person in einem anderen Land Asyl erhalten hat.