Bundestag will Grenzen des Wachstums ausloten

Ein neuer Indikator soll Wohlstand und Fortschritt messen

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Nach einer Initiative von SPD und Grünen hat sich gestern im Bundestag eine Enquete mit dem sperrigen Titel Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft konstituiert. Das Thema der Enquete, die sich die französische Stiglitz-Kommission zum Vorbild nehmen will, birgt politischen Sprengstoff - immerhin rückt durch sie die bisher über alle Parteigrenzen hinweg mehr oder minder ausgeprägte Wachstumsgläubigkeit in die Kritik. Die schwarz-gelbe Koalition hat dabei bereits im Vorfeld erfolgreich versucht, den Auftrag der Enquete zu entschärfen.

Denn den ursprünglichen, von SPD und Grünen ausgearbeiteten Antrag zur Einsetzung der Enquete-Kommission wollten Union und FDP nicht mittragen. Er war der Regierungskoalition offenbar zu scharf formuliert, auch weil er nicht von vornherein klar stellte, dass die neuen Wege des nachhaltigen Wirtschaftens innerhalb der sozialen Marktwirtschaft gesucht werden müssten.

Der ursprüngliche Antrag enthielt neben den, auch im Konsensantrag enthaltenen, Verweisen auf den Club of Rome, der bereits 1972 öffentlich über die Grenzen des Wachstums nachdachte, sowie Verweisen auf Klimawandel, Rohstoffknappheit und den demographischen Wandel auch einen expliziten Verweis auf die wachsende Ungleichheit zwischen den Industrienationen und der Dritten Welt, die unter Hungerkrisen leidet. Damit entfällt auch das Ziel, über neue, internationale Wirtschaftsstrategien nachzudenken, die den Zugang zu Wasser, Nahrung, Energie und Bildung in den schwächsten Regionen der Erde ermöglichen können.

Auch der Verweis auf Produktivitätssteigerungen und der daraus resultierende abnehmende Bedarf an Arbeitskräften in bestimmten Sektoren fand keinen Platz mehr in dem Antrag, der am 1. Dezember vom Bundestag mit den Stimmen aller Parteien, mit Ausnahme der Linken, verabschiedet wurde. Eine solche Aussage passt nicht zu den Rufen nach Vollbeschäftigung, die immer wieder laut werden - nicht nur von Wirtschaftsminister Brüderle (FDP), sondern auch aus der SPD.

Das bedeutet allerdings auch, dass die Diskussion über die Rolle von Arbeit und Freizeit sowie die Frage, wie unter den sich wandelnden Bedingungen eine größere Teilhabe am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben erreicht werden kann, in der Enquete entgegen dem ursprünglichen Antrag keine Rolle spielen wird. Ebenso entfällt die Verpflichtung der Kommission, nach Vorschlägen zum Abbau des Wachstumszwanges zu suchen sowie sich näher mit dem Zusammenhang zwischen Geld- und Kreditschöpfung der Banken und der Entwicklung des realen Wirtschaftswachstums zu beschäftigen.

Der Einsetzungsantrag der Linksfraktion, der dem ursprünglich von SPD und Grünen entwickelten Einsetzungsantrag entspricht, fand in der Abstimmung im Bundestag keine Unterstützung. Georg Nüßlein (CSU) lobte im Bundestag die Entscheidung von Grünen und SPD, gegen ihren ursprünglichen Antrag zu stimmen. Er se, so die verquere Logik, schon deshalb falsch, "weil ihn jetzt die Linken wortwörtlich übernommen haben".

Zu den Zielen der nun eingesetzten Enquete gehört es herauszufinden, wie Wirtschaft und Sozialstaat auch bei geringen Wachstumsraten stabilisiert werden können. Weiterhin untersucht die Enquete, wie das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes dauerhaft von einem Wachstum des Ressourcenverbrauchs und von Emissionen entkoppelt werden kann - mit dem Gedanken, dass künftig möglicherweise auch das Wachstum des BIP ein Ende finden könnte, möchten sich Union und Liberale noch nicht abfinden.

Schwarz-Gelb hält an der alten Fortschrittsidee fest

Nüßlein warnte bereits im Vorfeld, die Enquete solle "nicht systemkritisch an der sozialen Marktwirtschaft herumkritteln". Würde die Kommission Rohstoffendlichkeitszenarien entwerfen, "die am Ende doch falsch sind", so spiele sie damit nur "Ökoapokalyptikern" in die Hände. Nüßlein spricht lieber davon, dass es einen "Hightech-Umweltschutz der Union" geben müsse, auch, weil der Aufruf zum Verzicht gegenüber den Schwellen- und Entwicklungsländern "ausgesprochen arrogant" wäre.

Fortschrittsglauben und der Wunsch, von der Enquete die Bestätigung für ein einfaches "Weiter so" zu bekommen, treibt vor allem Union und Liberale an. Claudia Bögel (FDP) betonte in der konstituierenden Sitzung daher, dass wirtschaftliches Wachstum für die FDP auch künftig unverzichtbar sei. Ihr Fraktionskollege Otto Solms hoffte gar im Bundestag, den "Wachstums- und Fortschrittsskeptikern" dank der Enquete Paroli bieten zu können. Je mehr erwirtschaftet werde, so Solms, desto mehr könne auch verteilt werden. Daher brauche Deutschland mehr Wachstum. Ein Trugschluss, immerhin klafft trotz des Wachstums der vergangenen Jahre eine immer größere Lücke zwischen Arm und Reich. Die Zahl der Armen nimmt nicht nur zu, die Armen werden sogar noch ärmer - mit Umverteilung zu deren Gunsten hat die FDP bisher jedoch noch nicht von sich reden gemacht.

Ulla Lötzer (Linke) wies daher darauf hin, dass trotz des Anstiegs des Bruttosozialproduktes um über 60 Prozent seit 1991 die Lohnquote gesunken, die Armutsquote und die öffentliche Verschuldung jedoch gestiegen sei. Mit Blick auf Nüßlein, der den Linken unterstellte, Wege zum Kommunismus suchen zu wollen, weil sie auch jenseits der sozialen Marktwirtschaft nach Lösungen für die Wachstumsproblematik suchen, antwortete sie, dass statt ständiger Bekenntnisse zur sozialen Marktwirtschaft die Frage danach, wie Politik und Demokratie das Primat über die Wirtschaft zurückgewinnen können, wichtig sei. Künftig sollten die Bürger entscheiden, was auf welche Weise in der Gesellschaft produziert wird.

SPD will anscheinend Schröder-Ära aus taktischen Gründen hinter sich lassen

Peter Friedrich (SPD) betonte für seine Partei die besondere Bedeutung des noch zu entwickelnden neuen Indikators. Dieser soll den materiellen Lebensstandard, den Zugang und die Qualität von Arbeit, Bildungschancen, Gesundheit, die soziale Sicherheit und politische Teilhabe wie auch die Verfügbarkeit von Ressourcen und die intakte Umwelt berücksichtigen. Der jetzige Indikator, das BIP, decke weder die natürlichen Lebensgrundlagen noch die Entkoppelung des wirtschaftlichen vom gesellschaftlichen Fortschritt ab, so Friedrich. Für längerfristige Entwicklungen sei es sogar blind. Friedrich will die Enquete nutzen, um über Prozesse zu diskutieren, die das Gemeinwohl mehren können.

Dass die Sozialdemokraten ausgerechnet für diese Enquete die Initiative ergriffen haben, hat möglicherweise nicht nur inhaltliche, sondern auch taktische Gründe. In ihrem erst kürzlich vorgestelltem Fortschrittsprogramm (SPD auf der Suche nach ihrer Zukunft) sprechen sie sich ebenfalls gegen blinde Wachstumsgläubigkeit aus. Mit der Arbeit in der Enquete könnten die Sozialdemokraten einen Politikwechsel weg von der alten Agenda-Politik inszenieren und sich in ihren Positionen gegen schwarz-gelb absetzen - umso mehr, weil die Enquete öffentlich tagen wird.

Unter Gerhard Schröder gehörte Wachstum noch zu den Top-Themen der Sozialdemokratie. Mittels Konsolidierungspolitik Wachstum und Beschäftigung zu schaffen, gehörte zu den zentralen Aspekten des Wahlprogramms der SPD zur Bundestagswahl 1998. Selbst riskante Kapitalanlagen sollten wachsen: Das "Engagement von Privatanlegern in Wagniskapital" zu fördern, wurde für die SPD zum Parteiziel. Durch die Teilprivatisierung des Rentensystems schufen die Sozialdemokraten Wachstum im Bereich der Finanzdienstleister und Verluste auf Seiten zahlreicher Kleinanleger, die eigentlich ihre Rente abzusichern hofften.

Auch der Niedriglohnsektor ist gewachsen wie in keinem anderen Land - möglich wurde dies auch durch die Hartz-Reformen. Und noch auf dem Parteitag 2010 feierte der SPD-Chef Gabriel die Abwrackprämie als Erfolg - obwohl sie weder ökonomisch noch ökologisch nachhaltig war. Hier müssen die Sozialdemokraten also noch beweisen, wie ernst ihnen ihr neuer Kurs ist.

Anfang Februar wird die Enquete ihr Arbeitsprogramm festlegen, bevor sie dann im März zu ihrer ersten öffentlichen Sitzung zusammenkommt. Zu den Experten der Kommission gehören unter anderem Marc Oliver Bettzüge vom Energiewirtschaftlichen Institut Köln, welches sich über Drittmittel der Energiewirtschaft finanziert, Kai Carstensen, der den Forschungsbereich Konjunktur des ifo-Instituts leitet, und Meinhard Miegel, der der Finanzindustrie nahe steht, aber auch Attac-Beirat Ulrich Brand oder Vorsitzende der Naturfreunde Michael Müller.