SPD auf der Suche nach ihrer Zukunft
Zwischen gesellschaftlichem Fortschritt und dem Internet besteht für die SPD kein Zusammenhang
Irgendwie nimmt sie momentan niemand so wirklich ernst: die SPD. Selbst für den politischen Gegner sind die Sozialdemokraten allenfalls eine Erwähnung am Rande wert. Viel lieber schießen sich Liberale und Union angesichts der kommenden Landtagswahlen auf die Grünen ein. Die CDU hat der aufstrebenden Partei sogar einen eigenen Internetauftritt gewidmet, der die Plakative Kritik an den Grünen schon im Namen trägt: die-dagegen-partei.de soll unmissverständlich klar machen, welche fortschrittsfeindliche Gefahr für die Bundesrepublik diese darstellen. So hilflos diese Aktion der CDU auch ist, so zeigt sie doch, dass die Union in den Grünen eine ernsthafte Gefahr sieht – die SPD ist da derzeit ein ganz anderes Kaliber. Notfalls, so möglicherweise das Kalkül, könnte sie im Falle des Scheiterns der FDP auch wieder als Mehrheitsbeschaffer für die Union dienen. Zu viel Kritik im Vorfeld der Wahlen wäre da kontraproduktiv.
Währenddessen muss die Sozialdemokratie um ein wahrnehmbares politisches Profil kämpfen. Mit einem Fortschrittsprogramm, das die SPD in einer zweitägigen Klausur in Potsdam beschlossen hat, soll die SPD wieder eine starke Rolle auf der politischen Bühne spielen. Parteichef Gabriel kündigt vollmundig an, "dem Fortschritt wieder eine Richtung" geben zu wollen.
Technologischer und wirtschaftlicher Fortschritt solle künftig mit steigendem individuellen und gesellschaftlichem Wohlstand sowie sozialer Sicherheit und demokratischer Teilhabe einhergehen. Veränderung, ja bitte – aber nicht im Glauben an anonyme und freie Marktkräfte. Auch einer blinden Wachstumsgläubigkeit erteilt das Papier eine Absage. Wachsen müsse, was die Lebensgrundlagen sichert sowie Leben und Gesundheit schützt. Alles, was die Lebensqualität mindert und "Zukunftschancen verbaut", solle dagegen möglichst verschwinden.
Mit ihrem Zukunftsprogramm kündigt die SPD nicht nur einen höheren Spitzensteuersatz "von bis zu 49 Prozent" sowie eine "gerechtere Vermögens- und Kapitalbesteuerung" an, was zu einer Umverteilung zu Gunsten von Familien und kleinen bis mittleren Einkommen von 800 bis 3000 Euro führen soll. Viele Vorschläge der Sozialdemokraten, wie beispielsweise die Einführung einer Bürgerversicherung, der gesetzliche Mindestlohn und gleiche Rechte und Bezahlung für Leiharbeiter sind bereits sattsam bekannt.
Bemerkenswert hingegen ist, dass im Fortschrittsprogramm jeglicher Verweis auf Hartz IV und die Agenda 2010 fehlt. Heiklen Diskussionen geht die SPD-Parteispitze damit aus dem Weg. Dabei kritisiert sie lautstark vieles, was sie selbst geschaffen hat: Es sei nicht alles sozial, was Arbeit schaffe. "Billiglöhne werden nicht bekämpft, sondern staatlich gestützt und subventioniert", kritisiert die SPD. Dass es einst der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder war, der sich mit dem Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik brüstete, die SPD mit ihrer Agendapolitik einen großen Anteil an den sozialen Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt hatte, wird mit keiner Silbe erwähnt. Vertrauen für einen ernst gemeinten Politikwechsel schafft die Sozialdemokratie so nicht.
Misstrauen schafft auch der Abschnitt, in dem die SPD als Reaktion auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts die Tarifeinheit wieder herstellen will. Damit wissen die Sozialdemokraten sowohl Arbeitgeber als auch den DGB auf ihrer Seite. Was zunächst nach einer Stärkung der Gewerkschaftsposition klingt, hat einen großen Pferdefuß. Denn verschiedene Tarife entstehen dort, wo verschiedene Gewerkschaften mit unterschiedlicher Konfliktbereitschaft bestehen. Eine gesetzlich festgesetzte Tarifeinheit würde die Mitglieder kleiner, aber kampfstarker Gewerkschaften wie der GdL zwingen, schlechtere Abschlüsse zahlenmäßig stärkerer Gewerkschaften zu akzeptieren – und sie obendrein zur Einhaltung der Friedenspflicht zwingen, für einen Tarifvertrag, den diese nicht akzeptiert haben. Geholfen ist damit vor allem den großen Gewerkschaften, die so unliebsame Konkurrenz auf Abstand halten können, aber auch den Arbeitgebern, die sich nunmehr nur noch mit den eher konsensorientierten großen Gewerkschaften einigen müssten.
Ein Schwerpunkt der SPD ist die Bildung. Mindestens 10 Milliarden Euro im Jahr soll der Bund künftig für den Ausbau von Ganztagsschulen und Kindertagesstätten zur Verfügung stellen. Bei derart hohen Summen werden bereits die ersten Rufe laut, dass das Fortschrittsprogramm der Sozialdemokraten gegen die Schuldenbremse verstoße und damit verfassungswidrig sei. Woher das Geld kommen könnte, deutete Gabriel auf einer Pressekonferenz zum Abschluss der Klausurtagung an. Man müsse mehr Geld in Bildung als in kleine Transferbeträge investieren, so der Parteichef. Einsparpotentiale sieht Gabriel auch beim Mehrwertsteuersatz für Hotelübernachtungen, Subventionen, die dem Umweltschutz abträglich sind, und durch die Einführung von Mindestlöhnen: Diese könnten dem Bund allein fünf Milliarden Euro an Lohnsubventionen ersparen, Steuermehreinnahmen nicht mit eingerechnet.
Nicht eingegangen wird in dem 43seitigen Programm auf die Bedeutung des Internets oder digitaler Medien überhaupt, weshalb das Papier bereits in der Kritik steht. Auf Nachfrage gab Sigmar Gabriel zu verstehen, dass dies auch nicht nötig sei. Gesellschaftlicher Fortschritt spiele sich nicht im Internet ab - "Da bin ich altmodisch", erklärte er selbstbewusst. Im Übrigen vollziehe sich die Entwicklung im Internet auch ohne sozialdemokratischen Einfluss. Die Bedeutung eines freien Internets scheint der Parteispitze noch nicht geläufig zu sein.
Über das Ergebnis der "lebendigen und engagierten" Klausur zeigte sich Gabriel sehr zufrieden. Es gebe ein hohes Maß an Geschlossenheit in der SPD, jeder Beschluss sei einstimmig gefasst worden. Ende des Jahres will die Partei das Fortschrittsprogramm auf einem Parteitag beschließen.