CASTOR-Scanner enthüllt Atomtourismus

Atomkraftgegner überwachen online Bundesbahntransporte

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Wann rollen auf welcher Strecke CASTOR-Transporte? AKW-Betreiber, Ministerien und Bundesbahn hielten bislang dicht. Doch CASTOR-Gegner haben jetzt ein Gegenmittel zur offiziellen Geheimhaltungspolitik entwickelt: Den CASTOR-Scanner.

In dem kleinen Keller der Koblenzer "Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz" (ARGUS) ragen die eingebauten Regale bis zur Decke, fein säuberlich gefüllt mit Ordnern mühsam zusammengetragener Informationen über nukleare Strahlung und ihre Meßbarkeit, Aufklärungsmaterial aus der Wissenschaft, vom Bundesamt für Strahlenschutz und von Atomkraftkritikern. In selbst gebauten Racks die Meßgeräte, teilweise Marke Eigenbau, teilweise von Ortec, Canberra und Siemens. Ausgemusterte Industriecomputer, teure Detektoren und ein Gammaspektrometer im Wert von rund 20.000 Mark sorgen hier im Verbund für eine lückenlose Überwachung der Rhein-Mosel-Strecke. Mit dem Gammaspektrometer können einzelne gammastrahlende Stoffe identfiziert werden.

Das ARGUS-Labor zur Meßdatenauswertung in der Koblenzer Innenstadt 1991: links Robert Burg - heute ist es in dem kleinen Raum noch wesentlich enger: unter dem Fenster befindet sich der Zentralrechner für die CASTOR-Messungen.

Es fiepst und rauscht - das 9.6er Modem überträgt gerade die neuesten Daten der an der Bahnstrecke aufgestellten Meßstation. Die "extrem empfindliche und superschnelle" Radioaktivitätsmeßanlage - so Entwickler und Betreuer Robert Burg stolz - erkennt innerhalb von Sekundenbruchteilen den vorbeifahrenden Zug an der von den Brennelementen abgegebenen Gammastrahlung. Vier Meter von den Gleisen entfernt ist die Anlage in einem kleinen Holzhäuschen versteckt. Als Detektor wird ein NaJ(T1)-Szintillator eingesetzt. Das Meßprogramm berechnet arithmetische Mittelwerte über unterschiedliche Zeitspannen, vergleicht sie miteinander und erkennt so sofort den vorbeifahrenden Zug am deutlich hohen Ausschlag der Meßwerte.

Der CASTOR-Scanner im Holzhäuschen an der Bahnstrecke Koblenz-Cochem: In dem blauen Behälter befindet sich der Detektor, im 19 Zoll-Rack die Rechnereinheit mit Bildschirm, darunter der Meßkanal und die Tastaturschublade.

Das System ist vom Ansatz her simpel, von der Ausführung jedoch komplex: So muß die aktuell gemessene Gammazählrate mit den Zählraten aus der durchschnittlichen natürlichen Strahlung verglichen werden. 18,4 Messungen werden pro Sekunde durchgeführt. Der Durchschnitt wird als gleitender Mittelwert aus der Umgebungsstrahlung - das sind ungefähr 100 nSv/h - berechnet. Durch Witterung beeinflußte Schwankungen müssen berücksichtigt werden. So kommt es beispielsweise bei Tauwetter oder Regen zu einer kurzfristigen Erhöhung der natürlichen Strahlung, an die sich der Mittelwert anpassen muß, um falschen Alarm zu vermeiden. Wird im Vergleich dieser Mittelwerte ein festgelegter Schwellenwert überschritten, protokolliert der Rechner die Rohdaten der Meßreihe in einer Datei.

Alle Meßdaten werden von einer Minute vor und nach Vorbeifahrt des Zuges gespeichert, doppelt auf Diskette und Festplatte gesichert und über eine Telefonleitung sofort an den Zentralrechner - einem PC mit Windows 95 - im Koblenzer Keller geschickt. Ein Tastendruck und die Meßdaten werden in einer Grafik dargestellt. CASTOR-Transporte sind leicht zu erkennen: Ihre Gammastrahlung ist 17 bis 60-fach so hoch wie die natürliche Strahlung - ein steiler Peak zeigt mit rund 7 Meßpunkten den in Sekundenbruchteilen vorbeigefahrenen Zug an.

Prinzipieller Aufbau des CASTOR-Warnsystems

Atomtourismus

Seit Herbst vergangenen Jahres überwacht die Anlage zwischen Koblenz und Cochem eine der drei Haupttransportstrecken. Am 5. November verfing sich der erste heimliche Castor-Transport im Aufklärungsnetz der Atomkraftgegener: Er bestand aus zwei Behältern mit hochaktivem Müll aus dem AKW Krümmel und drei CASTOR-Behältern aus der Atomanlage Emsland. Deutlich unterschieden sich die Behälter voneinander: Während die Castor-Strahlung rund das 55-fache der natürlichen Strahlung betrug, zeigten die Transporte mit dem Atommmüll eine wesentlich geringere Strahlung: hoch- und mittelaktiver Atommüll verursacht einen Anstieg zwischen dem 5- und 12-fachen der Umgebungsstrahlung.

Messung vom 5.11.97 - CASTOR-Transport durchfuhr gegen 4:00 Koblenz - deutlich zu sehen sind die unterschiedlichen Strahlungspeaks

Über die Bahnlinie laufen jedoch nicht nur alle CASTOR-Transporte aus den nördlichen Atomkraftwerken, sondern auch kleinere, bislang unauffällige Nukleartransporte. So wurden allein im Zeitraum zwischen dem 3. November und 5. Dezember sechs kleinere "Ereignisse" registriert, die das Dreifache der Umgebungsstrahlung anzeigten. Robert Burg, der die Anlage ständig überwacht, vermutet, daß es sich hier um Strahlenquellen oder radioaktiven Müll aus der Industrie, Krankenhäusern und Universitätslabors handelt. Möglicherweise sind es auch Transporte von Baumaterial mit einem hohen Anteil natürlicher Radioaktivität, Bims beispielsweise.

Messung vom 5.12.97 - Zug durchfuhr gegen 14:15 Koblenz - hier könnte es sich um einen mit bimshaltigen Baumaterial oder radioaktiven Abfällen beladenen Zug handeln.

"Mit der Zunge am CASTOR-Behälter"

Die Höhe der radioaktiven Strahlung war für die ARGUS-Leute eine "nicht eben positive Überraschung". Betroffen von den Transporten sind vor allem Bahnarbeiter, LKW-Fahrer und Polizei sowie die Anwohner der einschlägigen Rangierbahnhöfe. Das Gesundheitsrisiko geht nicht nur von der gemessenen Gammastrahlung aus, sondern vor allem von der vier bis sechsmal höheren Neutronenstrahlung. Aber auch beim letzten Transport wurde die Neutronendosis von den Begleitpersonen nicht erfaßt.

Immerhin wurde in offiziellen Informationsblättern, die an alle Gruppenleiter der Polizei verteilt wurden, festgestellt, daß der Castor selbst Strahlung abgibt. Allerdings könne nur die Gammastrahlung "zu einem gewissen Teil" den Behälter durchdringen. Laut Strahlenschutzverordnung soll kein Mensch mehr als ein Millisievert pro Jahr zusätzliche Strahlendosis erhalten. Die Schlußfolgerung für die Polizeikräfte: "Um diese Strahlendosis jedoch zu erhalten müßte man ca. neun Stunden 'mit der Zunge am Behälter kleben'. Da aber nicht ausgeschlossen werden kann, daß eingesetzte Polizeikräfte in den kontaminierten Bereich unterhalb von zwei Metern Abstand zum Castor gelangen, wird an alle in Betracht kommenden Beamte ein Strahlendosimeter ausgehändigt und nach dem Einsatz ausgewertet". Ein kleiner Fortschritt, gewiß. Doch die Dosimeter erfassen nur Bruchteile der gesamten Strahlung - völlig unmöglich ist es herauszufinden, welche Elemente in welchem Zerfallsstadium zur gemessenen Gesamtstrahlung beitragen.

Unabhängige Kontrolle

Die Anlage an der Bahnstrecke wird zusätzlich auch zur Umgebungsüberwachung im Meßnetz der AUA genutzt - die 1985 gegründete ARGUS ist Teil der "Arbeitsgemeinschaft Umgebungsüberwachung von Atomanlagen" (AUA). Unter der Leitung des Münchner Atomphysikers und Strahlenbiologen Eckhard Krüger wurde in Zusammenarbeit mit anderen Vereinen und Wissenschaftlern ein Meßsystem zur unabhängigen Umgebungsüberwachung von Atomanlagen entwickelt. An sechs, gleichmäßig um das AKW Mühlheim-Kärlich verteilten Orten werden bis heute die Daten vollautomatisch gesammelt. Ziel des Unternehmens: Beweise für die notwendige Stillegung der erdbebengefährdeten Atomanlage zu erbringen sowie Behörden und Betreibern "ein Stück unabhängiger Kontrolle aufzuerlegen".

Schon damals wurden die erhobenen Daten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und direkt in die politische Arbeit übernommen. So wurde bereits am 11. September 1987 mithilfe der ARGUS-Meßanlage eine radioaktive Wolke über Neuwied gemessen, andere kleinere Störfälle blieben ebenfalls nicht unbeobachtet. Erläutert wurden die Meßdaten eingehend in den Rundbriefen der ARGUS, die an die Bevölkerung in der Umgebung verteilt wurden. Die jahrelange Anstrengung hat sich gelohnt: Nicht umsonst formierte sich der Widerstand gegen Mühlheim-Kärlich so entschlossen quer durch alle Bevölkerungsschichten - nach einem Gerichtsurteil muß das AKW jetzt endgültig abgeschaltet werden.

Auf dem Weg zur lückenlosen Überwachung

Im Moment arbeiten die ARGUS-Leute noch an einer weiteren Verfeinerung ihres Überwachungs- und Alarmsystems: So sollen nach einer selbständigen mathematischen Plausibilitätsprüfung automatisch Faxnachrichten an ausgewählte Adressen verschickt werden: Bürgerinitiativen und Bürgermeister betroffener Gemeinden. Zur totalen Überwachung aller Nukleartransporte fehlt nicht viel: Mit nur drei Anlagen könnten alle wichtigen Bahnstrecken ins Ausland überwacht und so der gesamte Atommülltourismus aufgedeckt werden. Doch die immensen Kosten der Meßanalagen - sie liegen zwischen 15.000 und 25.000 Mark - verhindern vorerst noch eine konzertierte Überwachung. Auch fordert die Überwachung von den Beteiligten vollen Einsatz - für Robert Burg ein zweiter Vollzeitjob. Vorerst bietet die ARGUS Lehrgänge für Interessierte an, verkauft werden sollen die Anlagen nur an Leute, die auch bei der Arbeitstruppe Umgebungsüberwachung mitmachen. Auch eine Firma konnte bereits gefunden werden, die die ARGUS-Anlage bauen und vertreiben wird.