CHIPKARTEN UND TECHNOPOLIZEI
Interview mit dem kanadischen Soziologen David Lyon über Umrisse und Grenzen der »Überwachungsgesellschaft«
Bringen fortschreitende Technisierung und Vernetzung notwendigerweise auch eine stärkere soziale Kontrolle und Überwachung mit sich? Existiert bereits ein »elektronisches Panoptikum«? Das Heraufziehen der »Überwachungsgesellschaft«, unterstützt von einer boomenden Elektronik-Ökonomie, ist mittlerweile ein beliebtes Studienobjekt geworden, so etwa für den kanadischen Soziologen David Lyon, Autor der Studie »The Electronic Eye. The Rise of Surveillance Society«.
Viele soziologische Ansätze gehen in letzter Zeit davon aus, daß seit dem Aufkommen und der verstärkten Verwendung von Computertechnologie auch eine größere historische Verschiebung im Gange sei, nämlich eine von Disziplinierungsgesellschaften, wie sie Foucault analysiert hat, zu Kontroll- oder Überwachungsgesellschaften. Stimmen Sie dieser Ansicht zu, und wenn ja, wie lassen sich die Konturen dieser »neuen« Überwachungsgesellschaft am besten erfassen?
DAVID LYON: »Größere historische Verschiebungen« mit neuen Technologien in Verbindung zu bringen, ist immer ein wenig gefährlich, vor allem, wenn man sich noch inmitten der sogenannten Revolution befindet. Aber es ist offensichtlich, daß die weitverbreitete Verwendung von Computertechnologie in den Sphären des sozialen, politischen und ökonomischen Lebens der »fortgeschrittenen Gesellschaften« zu einer qualitativ anderen Situation als jener vor den sechziger Jahren beigetragen hat. Die damals existierenden Verwaltungssysteme mit ihren umfassenden Überwachungskapazitäten waren bereits recht wirksame Mittel, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten und die unterschiedlichen Facetten des Nationalstaates und der Wirtschaft rational zu organisieren.
Die Computerisierung hat diese Praktiken zur Routine werden lassen und zu deren schnellen Verbreitung quer über vormals getrennte Bereiche hinweg beigetragen. Grenzen sind dabei insofern verwischt worden, als nun zum Beispiel unterschiedliche Regierungsabteilungen leichter Daten miteinander austauschen können, als kommerzielle Unternehmen viel genauer über den individuellen und familiären Konsum Buch führen können, und als die Verbrechensbekämpfung - etwa im Hinblick auf den Drogenhandel - zu einem internationalen Unterfangen geworden ist.
Die »disziplinären« Aspekte sind immer noch sehr stark, aber »Kontrolle« ist in dem Maß wichtig geworden, als die gewünschten Resultate beim Betreiben von Überwachungssystemen nun immer wahrscheinlicher werden. Indem man dieses Szenario eine »neue« Überwachungsgesellschaft nennt, lenkt man das Augenmerk auf eines der auffallendsten Merkmale heutiger sozialer Organisation. Was aber nicht heißt, daß die Menschen in den westlichen Gesellschaften unter totalitären Regimen leben.
Ein Hauptelement innerhalb dieses »neuen« historischen Szenarios scheint die Verwendung von Datenbanken zu sein. Ihr exzessiver Gebrauch durch allerlei Institutionen und Unternehmen legt die Existenz einer Art von »Superpanoptikum« (wie Mark Poster das genannt hat) nahe. Inwiefern läßt sich dem zustimmen? Inwiefern befinden wir uns andererseits nicht schon lange jenseits eines panoptischen Bildes?
DAVID LYON: Das hängt davon ab, was man in diesem Zusammenhang unter »Panoptikum« versteht. Foucault sah in Jeremy Benthams ursprünglicher Gefängnisarchitektur, in der ein zentraler, unbeobachteter Beobachter die Aktivitäten aller Insassen, in den ihnen zugeteilten Zellen überwachen konnte - oder zumindest dies dem Anschein nach tun konnte -, eine passende Metapher für die allgemeinen Disziplinierungspraktiken der Moderne. Sie ließ sich auch für die Analyse von Schulen, Managementtechniken, Krankenhäusern, Sozialarbeit usw. verwenden. Foucault betonte dieses Moment bisweilen sehr stark. So bezeichnete er das Panoptikum etwa als »gesichtslosen Blick, der den gesamten Sozialkörper in ein Feld der Wahrnehmung transformiert« - und schien die Widerstandskräfte dagegen zu unterschätzen.
Das Bild des Panoptikums eignet sich offenbar bestens dazu, elektronische Formen von Überwachung zu analysieren, wie dies auch die Arbeiten von Oscar Gandy über Konsumentenüberwachung, von Webster und Robbins über den »Sozial-Taylorismus« am Arbeitsplatz oder von Mark Poster über Datenbanken ergiebig belegen. Man sollte jedoch hinzufügen, daß Posters Ansatz sich von den beiden anderen genannten doch etwas abhebt. Die potentielle Gefahr bei all diesen Erklärungen liegt darin, daß das grafische Bild des Panoptikums die analysierten Prozesse sowohl erhellen als auch gleichzeitig verdunkeln kann.
So sehr daher der panoptische »Sortiermechanismus« die Methoden der Konsumentenüberwachung (wie ich glaube, sehr brauchbar) beschreibt, so sehr kann eine Verallgemeinerung des Panoptikums auch in die Irre führen. Zum Beispiel enthüllt im Fall von Mangementtechniken eine sorgfältige Analyse jeder einzelnen Situation oftmals die Grenzen des Panoptizismus. Wenn man daher fragt, inwiefern wir uns bereits »jenseits« des Panoptikums befinden, so muß die Antwort darauf zweiteilig ausfallen. In manchen Fällen zeigt uns das panoptische Bild nicht genug von den gegenwärtigen Überwachungsrealitäten, in anderen lenkt sie unsere Aufmerksamkeit von dem ab, was tatsächlich passiert.
Wie genau zeichnen sich die Grenzen des Panoptizismus ab?
DAVID LYON: Hier kann nur eine genaue Analyse von einzelnen Situationen helfen. Zu sagen, daß panoptische Prozesse bei der Überwachung in einer Fabrik, bei den Fallstudien von Sozialarbeitern, bei der Parkplatzüberwachung durch Videokameras und bei der Erstellung von Konsumentenprofilen am Werk sind, mag schon stimmen. Aber die Frage ist, welche Aspekte des Panoptikums hier jeweils maßgeblich sind. Ist es die Unsichtbarkeit des Beobachters, die ausschlaggebend ist, oder sind es die Sortiermechanismen, die Subjekte klassifizieren, einschließen oder aussondern? Oder ist es vielmehr das Anhäufen einer bestimmten Art von Information, die darüber Aufschluß erteilt, wie Macht ausgeübt wird?
Die panoptische Metapher kann leicht den Eindruck erwecken, wir wären alle in einer massiven Überwachungs-Kontrollmaschine, einer Art totalen Dystopie gefangen. Unsinn!, sage ich. Untersuchen wir lieber die subtilen Unterschiede zwischen verschiedenen panoptischen Machtmechanismen um herauszufinden, wo und wie die sozialen Kräfte operieren.
Sie unterscheiden vier Milieus der elektronischen Überwachung: die staatliche Verwaltung, die Polizei und Sicherheitssysteme, den Arbeitsplatz und die Konsumsphäre. Welche neueren Entwicklungen oder Erfindungen in diesen Bereichen halten Sie für besonders alarmierend oder nennenswert?
DAVID LYON: Am Nennenswertesten sind sicher die Vernetzung und der Vergleich von Daten in all diesen Sphären. Personenbezogene Daten, die für einen bestimmten Zweck erhoben worden sind, werden oft auch für andere (offensichtlich für wichtig befundene) Zwecke genutzt. So zum Beispiel überwacht man Kanadier, die in die USA zum Einkaufen fahren, um herauszufinden, wer möglicherweise betrügerische Ansprüche auf Arbeitslosenversicherung erhebt. Die Datenbanken des Ministeriums für Zoll und Immigration werden dabei mit jenen der Antragsteller auf Arbeitslosenunterstützung wie in einer Art Rasterfahndung verglichen, um diejenigen auszusortieren, die nicht-deklarierte alternative Einkommensquellen haben. Auch die Entwicklung von sogenannten »Smart Cards« (Chip-Karten, auf denen Daten direkt gespeichert werden können) wird vermutlich Folgen haben, die weit über jene von zentralgespeicherten Datenbanken hinausgehen.
Ein spezieller Trend, den Sie analysiert haben, betrifft die verstärkte Konvergenz von administrativer und kommerzieller Überwachung. Die Sphären von öffentlichen bzw. staatlichen Aufgaben (wie etwa der Besteuerung) und privaten Unternehmensinteressen (wie sie zum Beispiel Datenservice-Firmen verkörpern) scheinen mehr und mehr ineinander zu verschwimmen. Ist es nicht äußerst beunruhigend, wenn immer mehr Datenmaterial privat erhoben und von einer privaten Hand an die nächste - ohne irgendeine öffentliche Kontrolle - weitergegeben wird?
DAVID LYON: Hierzu ist das Beispiel von Chipkarten im Gesundheitsbereich sehr aussagekräftig. An personenbezogenen medizinischen Daten ist mehr als bloß eine Stelle interessiert - Versicherungsagenturen, Ärzte, Krankenhäuser, Pharma-Konzerne etc. Das Risikopotential, daß Daten in die »falschen« Hände geraten, ist beträchtlich, solange es kein sorgsames Regime darüber gibt, daß solche Daten eben nicht »wild« miteinander geteilt werden. Die Mächte, die gegen solch sorgsamen Regime anstehen, werden ständig stärker: Regierungen kämpfen zusehends mit Defizitreduzierung und Kosteneinsparung, Pharma-Konzerne sind scharf darauf, ihre Produkte möglichst präzise auf die »richtigen« Kunden zuzuschneiden. Chip-Karten könnten in dieser Situation sogar dazu beitragen, daß die Leute selbst mitbestimmen, welche Daten sie gerne zugänglich machen und bekanntgeben würden - was insgesamt einen dezentralisierenden Effekt hätte. Die Konvergenz von Überwachungspraktiken scheint eher Regierungen und Konzernen als den »Datensubjekten« zugute zu kommen. Chip-Karten könnten einen Weg anzeigen, wie die Konsumenten-Bürger wieder ein wenig Kontrolle zurückgewinnen.
Sind Sie hier nicht sehr optimistisch? Immerhin würde dies erfordern, daß den Bürgern die Daten auf ihren Karten selbst einsehbar sind, was ein enormes technisches Wissen und den Besitz eines entsprechenden Instrumentariums voraussetzt. Außerdem würde dies voraussetzen, daß die relevanten Informationen vor den Bürgern selbst immer offengelegt werden - was de facto nur selten der Fall ist.
DAVID LYON: Ja, vielleicht bin ich zu optimistisch. Tatsächlich glaube ich, daß dazu ein größeres Wissen erforderlich ist. Ulrich Beck etwa behauptet, daß »Risikogesellschaften« zumindest eine größere Nachfrage nach den Mitteln zu solchem Wissen zu erzeugen scheinen. Sobald man sich mit der Bedrohung infolge der Verbreitung neuer Überwachungsmethoden beschäftigt, muß es verstärkt auch darum gehen, die Leute zum Gebrauch ihrer Informationsfreiheit und des Datenschutzes zu ermutigen.
Um für einen Augenblick auf die alten Kontrollformen zurückzukommen, so scheint es, als ob die Überwachung am Arbeitsplatz, das Panoptikum der Fabrik, immer mehr in Richtung Kontrolle des Konsumverhaltens verschoben bzw. ausgeweitet wird, das heißt, in Richtung ökonomischer Kontrolle und Durchdringung der Freizeit. Sehen Sie die Überwachung der Konsumsphäre (z. B. durch immer präzisere Marketingstrategien) auf ein und derselben Ebene wie andere, »zwanghaftere«, Formen der Überwachung?
DAVID LYON: Nun, ich würde nicht unbedingt behaupten, daß Fabriken immer und überall unweigerlich panoptisch sein müssen. Ebenso ist es die Konsumentenüberwachung nicht. Grob gesprochen, kann man panoptische Methoden als Mittel betrachten, die Bevölkerung zu normalisieren - etwa den Konsum zu maximieren. Darüber hinaus werden diese Methoden oftmals als »erfolgreich« in bezug auf die Ziele derer betrachtet, die diese Systeme einrichten. Sie schaffen Situationen, in denen, wie gesagt, die gewünschten Ergebnisse einfach immer wahrscheinlicher werden - die Leute kaufen Coca-Cola, CDs, die neuesten Autos, Computer oder Benetton-Sweater. Das große Paradoxon liegt darin, daß die »freie Wahl« - das Mantra des freien Unternehmertums - als Mittel der (sanften) sozialen Kontrolle eingesetzt wird. Die Suche nach Vergnügungen wird dahingehend vereinnahmt, die tatsächlichen Entscheidungsprozesse von Konsumenten zu steuern. Wenn wir daher unter dem elektronischem Panoptikum eine Apparatur verstehen, in der Konsumenten von einem böswilligen, einseitigen Blick - konstruiert und gesteuert von machthungrigen Marketingexperten - versteinert werden, so ist das Unsinn. Kaufwünsche und -entscheidungen werden nicht direkt erzwungen, sind aber indirekt von der subtilen Marketinghand geleitet, die geo-demografische Werkzeuge der Datenüberwachungs (»dataveillance«) dazu verwendet, ihre Ziele präzise anzusteuern. Man muß aber mitbedenken, daß diese Sortiermechanismen neben der Kanalisierung des Begehrens einfach auch bestimmte Gruppen von Nicht-Konsumenten ausschließen - die dann in anderen, zwanghafteren Überwachungssystemen wie Sozial- und Polizeiabteilungen wieder auftauchen.
Welche Rolle spielt das Internet in der Konstituierung der Überwachungsgesellschaft? Verstärkt es bloß die negativen, restriktiven Aspekte, oder läßt sich auch ein befreiendes Potential darin erkennen?
DAVID LYON: Alles, was ich über »Konvergenz« gesagt habe, wird durch das Internet noch erweitert und verstärkt. Diese Entwicklung erlaubt es, noch mehr personenbezogene Daten miteinander zu teilen, nämlich in ganz neuer, ausufernder Weise. Die Interpol kann das Internet dazu verwenden, Terroristen oder Drogenhändler zu verfolgen, Unternehmen können darüber ihre internationalen Märkte erweitern, Arbeitgeber können überwachen, an welchen »Usegroups« ihre Angestellten teilnehmen oder welche Bilder sie aus dem Netz herunterladen, und ein Normalverbraucher kann entfernte Orte mit Hilfe einer »Web-Cam« besichtigen - Videoüberwachungskameras, deren Aufnahmen auf Knopfdruck abgerufen werden können. Aber wie im Fall der Konsumentenüberwachung existieren auch hier Formen des Ausweichens und Widerstands, die - entsprechend dem demografischen Profil der meisten Nutzer, nämlich bessere Schulbildung, höheres Einkommen - nicht vollends mysteriös oder unzugänglich sind. Welche Befreiungspotentiale sich über diese Technologie tatsächlich realisieren lassen, hängt natürlich vom Wissen der Benutzer und von den politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen ab, innerhalb derer das Internet errichtet wurde. Es ist schwer einzusehen, wie die riesige Informationsflut, die von den gegenwärtigen Benutzern geschaffen wird, nicht auch katalytisch auf Anstrengungen wirkt, die die schlimmsten Auswirkungen des Internet abschwächen wollen. Wir sehen dies heute bereits anhand des Umfangs der medialen Aufmerksamkeit, die den spektakuläreren oder obszöneren Fällen gewidmet wird. Begrüßenswert wären aber ernsthaftere Analysen und nüchternere Prognosen über die Zukunft der Überwachung im Internet anstatt der gegenwärtigen Moralpaniken und Techno-Sensationalismen.
An welche Formen des Ausweichens und Widerstands denken Sie hier?
DAVID LYON: Unter anderem denke ich an die rapide sich entwickelnden Kodierungspraktiken, um Daten zu schützen. Natürlich mußte dies auf die harte Ziegelmauer der amerikanischen Regierung stoßen, die über den »Clipper Chip« dem Staat erlauben will, diese Schutzmaßnahmen aus Gründen der »nationalen Sicherheit« zu umgehen. Aber allein die Tasache, daß hier eine Debatte stattfindet, schafft dem Thema eine Öffentlichkeit und macht somit eine politische Diskussion möglich.
Werkzeuge wie Datenvergleich und Rasterfahndung wurden in Europa (z. B. in Deutschland) als staatliche Waffen gegen den Links-Terrorismus eingesetzt. Die Wirkung war verheerend: Beamte sammelten Unmengen von Daten über unschuldige Bürger und verwendeten diese auch gegen sie. Währenddessen blieb der rechtsextreme Terror (der mittlerweile in Deutschland und Österreich wieder recht populär geworden ist) weitgehend unbehelligt. Technologischer Fortschritt alleine scheint also keine rechte Garantie für die Behebung sozialer oder politischer Übel zu sein. Können Sie dazu Stellung nehmen?
DAVID LYON: Es ist fast wie ein Fluch der Gegenwart, daß Regierungen, die immer mehr ihre Unfähigkeit einsehen, in der alten Art und Weise zu regieren (aufgrund der Legitimationskrise, Globalisierung usw.), auf technologische Lösungen setzen. Meist ist das nicht mehr als der verzweifelte Versuch, die Illusion von Kontrolle aufrechtzuerhalten. Die alten europäischen Methoden der politisch dubiosen verdeckten Ermittlung, die von den USA um die Jahrhundertmitte zur Bekämpfung »kommunistischer« Gruppen übernommen wurde, wird heute wieder als Art »Techno-Polizei«, die im Wert gestiegen ist, nach Europa rückexportiert. Ein Ergebnis davon ist, daß einige Ermittlungsfelder - am prominentesten der Drogenhandel - durch und durch amerikanisiert worden sind. In diesem Beispiel (wie auch im Fall der Terrorismusbekämpfung) sind die Konsequenzen extrem weitreichend, obgleich schwierig zu untersuchen und wohl kaum politisch neutral. Aber in demselben Ausmaß, in dem rechtsextremistische, rassistische Gruppierungen, Terroristen oder auch Drogenhändler verstärkt Gebrauch von hochtechnisierten Netzwerken machen, läßt sich auch vermuten, daß Regierungen und Polizei auf ähnliche Weise reagieren werden. Was wiederum den Konflikt - und die Debatte - aus dem Bereich des Politischen in jenen des Technologischen verlegt.
Überall sind heute Kameras installiert, die meisten Leitungen werden vermutlich überwacht (zumindest von irgendjemandem). Was empfehlen Sie gegen »High-Tech-Paranoia«?
DAVID LYON: High-Tech-Paranoia entsteht innerhalb einer Kultur, die die Fähgkeit überschätzt, menschliche Probleme mit technologischen Mitteln bekämpfen zu können. Daher erscheint sie als jene Angst, die gewissermaßen das Spiegelbild des Techno-Optimismus ist. Darüber hinaus wird sie durch einen alarmierenden Gebrauch von Ausdrücken wie »orwellianisch« oder »panoptisch« angetrieben. Heilmittel dagegen sind nicht leicht zu finden. Aber einige Taktiken lassen sich ansatzweise entwerfen: Erstens, sich ständig zu fragen, ob ein neu errichtetes System tatsächlich für jemandes Organisation, die »Community« oder soziale Umgebung, notwendig ist. So zum Beispiel treibt die Videoüberwachung von öffentlichen Orten Verbrechen nur an andere, weniger überwachte Orte. Die Suche nach sozialen, politischen und moralischen Lösungen gerät dabei nur allzu leicht in den Hintergrund. Zweitens muß man Wege finden, wie man »Datensubjekte« schützen kann, etwa indem man freiwillig bestimmte Praktiken und Codes übernimmt und indem man sicherstellt, daß diese Subjekte selbst wissen, welche legalen Ressourcen ihnen für den Datenschutz oder die Absicherung der Privatsphäre zur Verfügung stehen. Drittens schließlich sollte man politisch-moralische Debatten über den rapide sich verändernden Konnex von Technologie und Gesellschaft anzetteln. Man dient einer guten Sache weder durch Selbstgefälligkeit noch durch Paranoia. Die Suche nach prinzipiellen und angemessenen Aktionen ist immer noch wichtiger.
Übersetzt von Christian Höller
David Lyon - The Electronic Eye: The Rise of Surveillance Society. Cambridge: Polity Press, 1994
David Lyon/Elia Zureik (Hg.) - Computers, Surveillance and Privacy. Minnesota: University of Minnesota Press, 1996
Literatur zum Thema:
Backslash, Hack-tic, Jansen & Janssen, Keine Panik - Der kleine Abhörratgeber. Computernetze, Telefone, Kameras, Richtmikrofone. Berlin/Amsterdam: Edition ID-Archiv, 1996
William Bogard - The Simulation of Surveillance: Hypercontrol in Telematic Societies. Cambridge: Cambridge University Press, 1996
Christopher Dandeker - Surveillance, Power and Modernity: Bureaucracy from 1700 to the Present Day. Cambridge: Polity Press, 1990
Oscar Gandy - The Panoptic Sort: Towards a Political Economy of Information. Boulder: Westview Press, 1993
Beat Leuthardt - Leben online. Von der Chipkarte bis zum Europol-Netz: Der Mensch unter ständigem Verdacht. Reinbek: Rowohlt 1996
Gary T. Marx - Undercover: Police Surveillance in America. Berkeley: University of California Press, 1988
Mark Poster - The Mode of Information: Poststructuralism and Social Context. Cambridge: Polity Press, 1990
Mark Poster - The Second Media Age. Cambridge: Polity Press, 1995