CHP: Ist Atatürks Partei am Ende?
Seite 2: Mit der CHP wäre auch das Erbe Atatürks ausgelöscht
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Gerade jetzt bräuchte die CHP eine klare gemeinsame Linie. Sie ist die älteste Partei der türkischen Republik, und sie hat es geschafft, das Vertrauen zu verspielen. Viele Wähler hatten in den letzten Jahren auch deshalb ihr Kreuz lieber bei der AKP gemacht, weil sie in den Kemalisten keine Alternative mehr gesehen hatten. Für große Teile der Kurden waren sie seit jeher unwählbar. Sie war zu einer Partei für die wohlhabende städtische Elite geworden, die sich weder um die Probleme der kleinen Leute scherte noch erkannte, dass im Land ein tiefgreifender Wandel stattfindet, der alle alten Ideale unter sich begräbt.
Die CHP machte zuletzt nur noch Politik gegen die AKP, nicht mehr für nennenswerte Teile der türkischen Bevölkerung. Den Rückenwind, den die Partei im Zuge des Referendums-Wahlkampfes erhielt, zerschmetterte Kilicdaroglu wenige Tage nach der Abstimmung, indem er öffentlich all jenen, die auf den Straßen gegen die Wahlmanipulationen demonstrierten, die Unterstützung verweigerte. Er fiel der zivilgesellschaftlichen Opposition in den Rücken.
Auch aufgrund dieser erratischen Haltung verließ die stellvertretende Vorsitzende Selin Sayek Böke nun ihren Posten. "Als eine Politikerin, die an die universellen Prinzipien der Sozialdemokratie glaubt und daran, dass die Türkei auf Basis dieser Prinzipien eine liberale Demokratie sein kann, finde ich es nicht mehr angemessen, Teil dieser Parteiführung zu sein", sagte sie. Auch weitere wichtige Mitglieder der Parteispitze haben bereits angedeutet, dass sie bald zurücktreten wollen. Dieser innerparteiliche Konflikt entbrennt zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. MHP-Chef Bahceli weidet das genüsslich aus und wirft der CHP vor, an der Seite der HDP zu stehen.
Wären es normale Zeiten und wäre die Türkei noch ein demokratischer Rechtsstaat, dann könnte man die Situation als Chance für die CHP ansehen, sich neu zu formieren und gestärkt aus den Querelen hervorzugehen. Aber es sind eben keine normalen Zeiten. Erdogan wird die Schwäche der Partei für sich zu nutzen wissen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Kilicdaroglu und weitere Führungspersönlichkeiten in nicht allzu ferner Zeit bei ihren HDP-Kollegen im Gefängnis landen, ist hoch. Interner Streit, der Verlust der Parteispitze und der mangelnde Rückhalt an der Basis - all das ist ein toxisches Gemisch. Was vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre, ist heute im Bereich des Möglichen: Dass das Republikjubiläum im Jahr 2023 ohne die Republik-Gründungspartei CHP stattfindet. Das Erbe Atatürks wäre dann ausgelöscht. Dass genau das Erdogans Ziel ist, ist ein offenes Geheimnis.