COVID-19: Der Coronavirus und die Zivilisation

Seite 2: Der Westen ist nicht mehr das Zentrum

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Doch der Westen ist nicht mehr das Zentrum der Welt. Die Covid-19-Krise hat die wachsenden Fähigkeiten und die humanere Gesinnung Ostasiens gezeigt. Es wird Impfstoffe geben, die in China, in Russland und in anderen Ländern außerhalb der NATO-Sphäre entwickelt werden. Ihre Erfolge werden das Monopol der westlichen "Big Pharma" brechen.

In Europa, und insbesondere in Frankreich, Italien und Spanien, verstärkt die völlige Desillusionierung über die Europäische Union den Trend, zur nationalen Souveränität zurückzukehren. Und souveräne Staaten, die in der Lage sind, auf die Forderungen ihres Volkes einzugehen, können sich von dem Diktat der Großfinanz lösen, um die Demokratie in angemesseneren Formen zu erneuern.

In Frankreich fordern Gewerkschaften und Progressive einen besseren Schutz der Bevölkerung, angefangen bei all jenen unverzichtbaren Arbeitskräften, die in Krankenhäusern und Lebensmittelgeschäften arbeiten, bei Busfahrern, Lieferanten, all jenen, die von ihren eingesperrten Landsleuten zunehmend geschätzt werden und die entsprechend ihres Dienstes für die Allgemeinheit entlohnt werden müssen.

Vielleicht aufgrund der langen Tradition sozialer Kämpfe in Frankreich, einschließlich der Gelbwesten-Bewegung - die nicht am Ende, sondern nur ausgesetzt ist -, kann man sicher sein, dass nach der Ausgangssperre massenhaft Forderungen gestellt werden, die Hirngespinste des neoliberalen Globalismus aufzugeben und ein System aufzubauen, in dem das Wohl der Menschen an erster Stelle steht.

In Deutschland hingegen wollte ein "Linker" im Zusammenhang mit der Corona-Krise eine Petition initiieren, in der Personen über 75 Jahre erklären, dass sie im Krankheitsfall auf medizinische Behandlung verzichten, um jüngeren Menschen den Vortritt zu lassen. Dies ist eine neue Variante der Identitätspolitik, in der Klassifizierung von Menschen nach Gruppen, und ein Schritt zur Wiederbelebung der schlimmsten Eugenik des Nationalsozialismus.

Was ist zivilisiert und was ist barbarisch? Das Beharren auf einem System, das allen die gleiche Fürsorge gewährt, oder die Entscheidung, dass die Älteren für die anderen geopfert werden? Was ist dies anderes als ein Vorschlag, auf Menschenopfer zurückzugreifen, um dem Mammon zu gefallen?

Für die Zivilisation

Einfach nur Alarm zu schlagen, weil die herrschende Klasse schrecklich ist, bringt uns nirgends hin, es sei denn, wir haben eine Vorstellung von einer echten Alternative - nicht nur "Widerstand" zu leisten, sondern etwas anderes und Besseres vorzuschlagen und dafür zu kämpfen.

Beginnen wir mit einem ganz konkreten praktischen Thema und arbeiten wir von dort aus weiter: Impfung. Wie andere Aspekte der Gesundheitsversorgung ist dies eine Frage des kollektiven Wohlergehens und nicht der individuellen Rechte. Es handelt sich nicht um ein Element des "Widerstands gegen Unterdrückung", sondern um die Weiterentwicklung der Zivilisation.

Das Coronavirus hat die Notwendigkeit von Impfstoffen nicht widerlegt - etwa mit der Begründung, dass "sie" sie gegen uns einsetzen wollen -, sondern im Gegenteil, es zeigt wie notwendig es ist, dass Impfstoffe unter angemessener Aufsicht zum Wohle der Allgemeinheit entwickelt werden und nicht als Mittel für Big Pharma, größere Dividenden für BlackRock zu erzielen.

Das Problem mit Impfstoffen ist also nicht die Impfung, sondern der amerikanische Kapitalismus, der völlig außer Kontrolle geraten ist. Einst war die Food and Drug Administration (FDA) ein zuverlässiger Kontrolleur pharmazeutischer Innovationen. In den letzten Jahrzehnten wurden solche Kontrollorgane zunehmend von den Firmen, die sie kontrollieren sollten, übernommen und in bloße Durchwink-Instanzen umgewandelt.

Alarm wird auch wegen der angeblichen Rolle von Milliardären wie Bill Gates geschlagen, dessen philanthropische Institutionen im Verdacht stehen, Impfstoffe für verborgene schändliche Zwecke zu manipulieren.

Abhilfe wird nicht dadurch geschaffen, vor Medikamenten und Impfungen zu fliehen, sondern darin, diese überdimensionierten diktatorischen Mächte zu zerschlagen und eine Gesellschaft aufzubauen, die zu Recht als zivilisiert bezeichnet werden kann, weil sie ein Gleichgewicht zwischen kollektivem und individuellem Wohlergehen herstellt. Natürlich sind es zwei Paar Stiefel, zu sagen, was getan werden sollte und zu wissen, wie man es umsetzen soll. Aber ohne eine Vorstellung davon, was getan werden sollte, wird es nicht einmal Anstrengungen geben, herauszufinden, wie es getan werden sollte.

In den Vereinigten Staaten wäre es unumgänglich, bestimmte wesentliche Tätigkeiten als öffentliche Dienstleistungen zu betrachten. Dies erfordert eine Reformdynamik, die einer Revolution gleichkommt, nicht, wie von marxistische Revolutionären für Situationen beschrieben, die es nicht mehr gibt. Arzneimittel und Krankenhäuser sind öffentliche Dienstleistungen und müssen gesellschaftlich kontrolliert werden. Das Internet ist zu einem öffentlichen Dienst geworden.

Wie sollte man damit umgehen? Innovatoren, die sich der Mechanismen des freien Marktes bedient haben, um als Monopol ihren Sektor zu kontrollieren, sollten dazu angehalten werden, eine ihrer Villen als Residenz zu behalten, wenn sie sich in die Rolle des Beraters zurückziehen. Ihre unverhältnismäßig hohen akkumulierten Gewinne sollten in die Staatskasse einfließen.

Ich befürworte keine "kommunistische Revolution", schon gar nicht für die Vereinigten Staaten. Ich plädiere für eine gemischte Wirtschaftsordnung, die verschiedene Formen annehmen kann, vom Frankreich der 1960er Jahre bis zum heutigen China. Die Schalthebel über die Wirtschaft sollten unter gesellschaftlicher Kontrolle stehen, um sicherzustellen, dass größere Investitionen einem sozialen Zweck dienen.

Die Formen dieser Kontrolle können variieren. In den Vereinigten Staaten sollte die erste Aufgabe der Tonangebenden sein, nicht mehr in die aberwitzig verheerende Waffenproduktion und stattdessen in die heimische Infrastruktur und in Maßnahmen zur Integration aller Bürger in eine wirklich zivilisierte Gesellschaft zu investieren. Eine solche gemischte Wirtschaftsordnung schafft ein günstiges Umfeld für den Zuwachs an kleineren unabhängigen Unternehmen, die innovativ werden können.

Mir ist vollkommen bewusst, dass die Vereinigten Staaten heute ideologisch Lichtjahre von einem solch vernünftigen Projekt entfernt sind. Aber in anderen Ländern sind Entwicklungen im Gange, um der Bedrohung durch Big Pharma und die Einmischung amerikanischer Milliardäre etwas entgegenzusetzen. Der Begriff, der für diese Entwicklungen steht, ist "Multipolarisierung".

Das ist der von Wladimir Putin 2007 lancierte Slogan. Damit trieb er die westlichen Champions der unipolaren Globalisierung in Rage. Davon haben sie sich noch lange nicht erholt. Man denke nur an das überaus provozierende "Defender Europe 20"-Militärmanöver, einer Atomkriegsübung direkt an der russischen Grenze - von Covid-19 vorübergehend ausgesetzt.

Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Satelliten führen faktisch Krieg gegen die Freie Welt - das heißt gegen Länder, die frei sind von US-Dominanz -, um ein imaginäres globales neoliberales Regime durchzusetzen: eine durch manipulierte Wahlen gebilligte Finanzherrschaft.

Dennoch ist die unipolare Globalisierung im Begriff, sich aufzulösen. Alle Diffamierungen Chinas können die Tatsachen nicht ändern. Während die US-Propagandisten ihren aufsteigenden Rivalen mit ätzender Kritik überziehen, sieht ein Großteil der Welt, dass China mit der Epidemie mit mehr professionellem Know-how umgegangen ist als der Westen. Die Kontrolle der Vereinigten Staaten über internationale Organisationen wird durch den wachsenden chinesischen Einfluss - insbesondere in der Weltgesundheitsorganisation - bedroht.

Das ist die größte Bedrohung für Big Pharma: eine multipolare Welt. Bill Gates und die US-Pharmaunternehmen werden kein Monopol an der Entwicklung von Impfstoffen zur Bekämpfung von Covid-19 haben. Eine dramatische Verschiebung von der neoliberalen Globalisierung hin zu einer multipolaren nationalen Souveränität wird einen echten Wettbewerb wiederherstellen - nicht nur bei der Produktion von Impfstoffen, sondern auch bei der gesellschaftlichen Organisation.

Mögen die westlichen Länder sich um ihre eigenen Probleme kümmern und Lösungen finden. Mögen andere Länder sich nach Leitbildern entwickeln, die ihrer Geschichte, Philosophie und den Forderungen ihrer Völker entsprechen. Es liegt auf der Hand, dass die vielgerühmte "freie Marktdemokratie" der USA kein Modell ist, das jedem Land der Erde, ja nicht einmal den Vereinigten Staaten selbst, aufgezwungen werden sollte.

Die gemischte Wirtschaftsordnung kann verschiedene Formen annehmen. Einige könnten sich zu etwas entwickeln, was man als Sozialismus bezeichnen könnte, andere nicht. Möge jedes kleine Land so unabhängig sein wie Island. Möge die Welt verschiedene Wege beschreiten. Lasst hundert Blumen blühen!

Diana Johnstone ist eine US-amerikanische Journalistin und Autorin. Sie war in der studentischen Anti-Vietnamkriegsbewegung, später in der europäischen Friedensbewegung aktiv. Sie studierte russische Regionalwissenschaft/ Slawistik, promovierte in französischer Literatur und hat mehrere Bücher veröffentlicht, u.a. "Die Chaos-Königin: Hillary Clinton und die Außenpolitik der selbsternannten Weltmacht" (2016).

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