Camshots - Natalies leicht paranoide Welt

Die Arbeits-und Lebensbedingungen einer Sexcam-Arbeiterin

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Aus der politisch motivierten Vermittlung des wahren Lebens ist die Ware Leben geworden. Ein riesiges Geschäft.

Mit der kommerziellen Verwertung von Privatheit durch Web- und Sexcams beschäftigt sich auch der Comic camshots. Nicht der Sex oder das mehr oder weniger erotische Spiel zwischen Voyeuren und Exhibitionisten stehen dabei im Vordergrund, sondern die Arbeits- und Lebensbedingungen einer Sexcam-Arbeiterin. Deren Arbeit wird dabei weder verherrlicht noch moralisch verdammt und, eine Seltenheit im Markt der Erwachsenen-Comics, camshots behandelt das Thema ohne selbst Vorlage für Voyeure zu sein.

Web- und Sexcams gehören inzwischen zum Alltag im Internet. Als die Pionierin unter den Camgirls, die US-Amerikanerin Jennifer Rigley, 1997 begann, ihr Leben im Internet zu veröffentlichen, trat sie damit eine Lawine los. Nach eigenen Angaben wurde ihre Webcam zwischenzeitlich täglich 2 Millionen mal von Voyeuren aller Länder aufgerufen. Gezeigt wird alles, was natürlicherweise in ihrem Zuhause geschieht: Schlafen, Essen, Freizeit. Ist es dunkel, sind die Bilder dunkel. Ist sie ausgegangen, sieht man eine leere Wohnung. Das Konzept ist Authentizität, auch wenn diese niemals erreicht wird. Liest man die verschiedenen Kommentare zu Jennicam wird allerdings schnell deutlich was die meisten Besucher von Webcams wirklich suchen: "Leider kriegt man selten etwas Erotisches zu sehen." Es ist hauptsächlich der Sex, der die große voyeuristische Masse auf die kommerziellen Portale der Webcam-Anbieter lockt. Die Auswahl reicht von durchaus krassen pornographischen Angeboten bis zu den harmloseren Varianten, bei denen Erotik lediglich in Form gelegentlicher Schaumbäder stattfindet.

Irgendwo dazwischen liegt die Arbeit von Natalie, der Protagonistin in camshots. Genaue Details werden nicht gezeigt:

...heute ist Nachtschicht angesagt. Das heißt, dass ich mit 800 Kunden eine schöne Nacht verbringen werde. Von denen schauen mir die meisten nur zu und die anderen haben so ihre besonderen Wünsche. Die Regeln setzte ich fest, soweit mein Bankkonto das zulässt.

Natalie lebt in einer vernetzten und überwachten Wohnung, die von ihrem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird. Küche, Dusche, Bett und Schreibtisch werden von Kameras überwacht. Wie nahe die Besucher Natalie kommen wollen, macht eine Kamera unter dem Schreibtisch deutlich: Sie zoomt direkt in Natalies Schritt.

Was Natalie in ihrem Arbeitsleben als akzeptabel erscheint, wird dramatisch, wenn es ihr Privatleben betrifft. Die eigene Wohnung bietet keinen Schutz vor der Außenwelt, ihr eigentliches Privatleben findet außerhalb ihrer Wohnung statt. Umso schlimmer ist das Gefühl auch dort unter dauernder Beobachtung zu stehen. Sei es beim Gang durch Menschenmassen oder auf dem Rücksitz des Autos, wenn der Fahrer durch den Rückspiegel nicht den Verkehr überwacht, sondern ihn zur Beobachtung seiner Mitfahrerin nutzt. Paranoia oder nicht, Natalie fühlt sich den Blicken der Mitmenschen ausgeliefert. Vor allem weiß sie nie, wer sie aus dem Web kennt. Ganz sicher kennt ihr privates Umfeld ihren Job und für den muss sie sich rechtfertigen: "Manchmal glaube ich meine eigenen Lügen. Was soll's!"

Neben der Entwicklung der Story, und das ist die Stärke von camshots, werden einige Mythen des Spieles mit angeblicher Authentizität entlarvt. Bei Natalie und ihren echten Kolleginnen geht es nicht um Experimente wie es vielleicht noch bei Jennicam der Fall war. Es geht um die knallharte Bedienung von Kundenwünschen. Authentisches Leben gibt es nicht zu sehen, das Geschehen folgt einer geschickten Dramaturgie. Das fängt bei der Anordnung der Kameras an und geht über das Styling der Angestellten bis hin zu klaren Verhaltensregeln:

Ich habe Glück, dass ich hübsch bin, denn hässliche Mädchen erhalten von LNL unzählige Regeln, um die Quote zu erhöhen. Meine neueste Hausaufgabe ist, dass ich zwei mal am Tag duschen soll. Hausaufgaben sind wichtig, da ich sonst weniger Kohle bekomme.

Camshots macht auch deutlich, dass die Sexcam-Arbeit kein Freizeit-Vergnügen ist. Die Camgirls stecken in einem Angestelltenverhältnis. Regeln müssen eingehalten werden und werden kontrolliert. Der Arbeitgeber greift kurzfristig ein, wenn das Make-up nicht mehr sitzt und immer wieder wird auf die Kundenwünsche hingewiesen. Verstärkt wird der Druck, das liegt in der Logik des Jobs, durch die extremen Überwachungsmöglichkeiten. Nicht nur die Kunden haben einen Einblick in das Leben Natalies, sondern auch der Arbeitgeber. So beschreibt camshots letztendlich auch ein Modell der modernisierten und überwachten Arbeitswelt: Die Arbeit der Camgirls entspricht der so häufig geforderten Orientierung an der Dienstleistung, sie erdulden eine gesteigerte Überwachung und auch die Grenzen von Privat- und Arbeitsleben sind nur noch schwer zu definieren.

Installation zu Camshots: wehende Puppenkleider und 833 Bilder zur Storyentwicklung

Gedeckte Farben, bizarre Montagen und eine Mischung aus realen Szenen und Traumsequenzen lassen die leicht paranoide Welt der Natalie entstehen. Vielleicht wirken manche Bilder etwas unfertig und lassen noch einen pointierten Stil vermissen. Doch camshots ist das Erstlingswerk von Müller und Steinbach und die Story hebt diese Schwächen auf. Vor allem zeigt camshots wie sehr sich die Bildsprache von Comics dazu eignet, virtuelle Welten mit der direkten räumlichen Umgebung und realen Lebenswelten auch bildlich in Beziehung zu setzen. Einen Eindruck davon vermittelt die Webseite zum Comic.

Camshots, Steinbach / Müller, DM 16,80, ISBN 3-7704-2790-4, Ehapa Comic Collection