Cannes 2024: Überraschungssieger, Enttäuschungen und ein kleines Meisterwerk
Seite 2: Der überraschende Sieger
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Die Filmfestspiele gingen dafür am Samstag mit einem überraschenden Sieger zu Ende. Die ganz großen Favoriten bekamen nur kleinere oder gar keine Auszeichnungen. Dafür gewann der Amerikaner Sean Baker mit seiner modernen Cinderella-Story "Anora", die "Pretty Woman"-Motive ins 21. Jahrhundert überträgt, die Goldene Palme.
Den Grand Prix, den zweiten Preis des Wettbewerbs, bekam "All We Imagine As Light" von Payal Kapadia – und damit auch der hiesige Filmstandort. Denn dieser erste indische Cannes-Wettbewerbsbeitrag seit über 30 Jahren und der erste Spielfilm der 38-jährigen indischen Filmemacherin, wurde in Luxemburg coproduziert.
Der Regiepreis ging an den Portugiesen Miguel Gomes, der in "Grand Tour" ins British Empire zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreist und mit Bildern von heute eine auch nostalgische Reise in die koloniale Vergangenheit unternimmt.
Will man in die Jury-Entscheidungen bestimmte grundsätzliche Tendenzen oder universale Aussagen hineininterpretieren, kann man feststellen, dass nahezu alle ausgezeichneten Filme, in jedem Fall die Hauptpreisträger, Frauen ins Zentrum stellen, und neben der Frage nach den Frau-Mann-Verhältnissen auch eine besondere Aufmerksamkeit auf die Beziehungen legen, die Frauen untereinander pflegen.
Mädchen in Männerwelt
Einer der besten Filme lief in der Nebenreihe "Un Certain Regard": "Le Royaume", das Debüt vom Franzosen Julien Colonna, das bald auf Netflix zu sehen sein wird. Colonna verbindet hier großartiges Gangsterkino und Männerwelten, Materialität und Haptik wie bei Michael Mann mit Motiven des Coming-of-Age und der Desillusionierung.
Eine Männerwelt, irgendwo im Süden. Wildschweine werden gejagt; Körper, Schweiß, Blut – und mittendrin ein junges Mädchen. Sie schneidet ein erlegtes Wildschwein auf, nimmt die Gedärme raus, Blutspritzer im Gesicht und man sieht, dass dies alles für sie auch eine Mutprobe ist, dass es sie Überwindung kostet. Der Lohn ist Schulterklopfen.
Es ist von Anfang an eine ausgezeichnete, präzise Regie, uns zwischen den Bildern, ohne Worte, aber auch ohne direkte platte Bilder sofort mitteilt, dass dieses Mädchen eine Prinzessin ist, das ist irgendwo einen König gibt, ihren Vater; man fragt sich auch gleich, welchen Prinzgemahl sie wohl erwählen wird, erst recht, als sie abends in der Disco knutscht. Aber sie hat auch da ihre Prinzipien.
Die Musik klingt wie in einem Thriller oder einem Horrorfilm und sie macht gleich klar, dass dies am Ende ernstes Genre-Kino ist und nichts dazwischen.
Kurz darauf wird sie von jemandem abgeholt. Sie wusste vorher von nichts, aber sie kennt das offensichtlich schon: "How long will I stay here?"
Ein Haus irgendwo am Meer. Wieder eine Männerwelt; zugleich sieht man, dass sie sich sicher fühlt, dass diese Männer ihr keine Gefahr bedeuten und dann ist klar: Einer davon ist ihr Vater.
Allmählich kommen weitere Informationen: Korsika, ein Attentat auf einen Politiker, ein Freund des Vaters. Die Nationalisten stecken nicht dahinter.
Tochter und Vater gehen Fischen auf dem Meer. Sie reden, über die Schule, die Tante, bei der sie lebt. Sie ist 16 und heißt Lesia. Der Vater ist autoritär, gibt ihr Lektionen, ist es gewohnt, dass man ihm gehorcht. Später essen sie den Fisch.
Aber was soll dieses ganze Geheimnisgetue?
"We must stay strong"
Es dauert noch etwas, erst dann ist es klar: Seit über 30 Jahren ist der Vater untergetaucht, und wird von der Polizei gesucht. Denn er ist der Boss eines Mafiaclans. Der Ermordete war ein Politiker, der für ihn Dienste erledigt hat.
So geht es eine Weile weiter: Man sieht die Männer wie sie mal wie Soldaten im Krieg Schutzwesten anlegen, ihre Waffen einstecken, man glaubt auch gelegentlich zu sehen, dass sie beobachtet werden.
Und dann wieder beim Kochen und Essen: Fischsuppe mit Fenchel und Knoblauch.
Aufgaben werden verteilt: "Make sure that you will be seen." Der Vater sagt: "Das ist der Anfang von etwas Größerem." Dann ist Lesias Patenonkel tot. "We must stay strong", sagt der Vater, aber allmählich schleicht sich etwas ein in dieses vertraute, erprobte Leben: Das Wissen, dass es damit endet.
Lesia will verstehen: Was wollen die Anderen? Worum geht es? Kann man mit ihnen reden? Nein, sagt der Vater. Man diskutiert nicht mit ihnen. Sie wollen töten. Es geht um Geld und es geht um Macht.
Sie müssen das Haus verlassen, wechseln immer schneller die Orte. Sie schlagen zurück, aber auch die Polizei ist ihnen auf den Fersen.
"Wir atmen Angst, wir essen Angst. Das hält uns am Leben."
Es wird immer klarer, dass diese Tage, die als kurzer Besuch beim Vater geplant waren, die letzten Tage sind, die sie überhaupt gemeinsam verbringen werden.
Auf einem Campingplatz, getarnt als Touristen, sprechen sie miteinander: Die Tochter sagt ihm: Du hast Angst. Seine Antwort: Im Leben, das wir leben, hat man immer Angst. Wir atmen Angst, wir essen Angst. Das hält uns am Leben.
Der Vater erzählt von der toten Mutter, von den besten Jahren seines Lebens; er sagt, er hätte nie gedacht, dass er so alt werden würde. Er sei weder stolz noch schäme er sich für das, was er getan hat. "Nun zahle ich dafür. Und du zahlst auch den Preis. Das tut mir weh. Ich hoffe, eines Tages vergibst du mir."
Dann tanzen Vater und Tochter miteinander. Das ganze Leben verdichtet sich auf diesen einen Moment. Das ganze Leben, das man nicht zusammen verbringen wird, das ist jetzt und hier in dieser Intensität ganz da.
Eleganz der Machart
Total toll ist, wie sich die permanente Angst und Wachsamkeit überträgt. Auch der Zuschauer erwartet immerzu das Schlimmste.
Immer wieder führt einen der Film auch an der Nase herum: Einmal geht der Vater über die Straße und wird auf eine Weise gefilmt, dass man glaubt, ganz sicher zu sein, dass er jetzt erschossen wird. Aber tatsächlich sind die Männer, die aus dem Auto aussteigen, seine Mitarbeiter und mit ihnen zusammen dringt er in ein Etablissement ein, wo er jemanden tötet.
Einmal ist es dann doch vorbei. Und dann kommt noch eine Volte: Denn Lesia, die dabei ist, als der Vater erschossen wird, rächt ihn, denn sie hat den Verräter erkannt. Der Freund des Vaters, der ihr hilft, sagt ihr danach: "Wir kümmern uns um die Anderen. Von nun an möchte ich dich nie wieder mit einer Waffe sehen."
Einen solchen Film in seiner Eleganz, in der Souveränität seiner Machart, könnte in Deutschland niemand so inszenieren. Außer natürlich Dominik Graf und Jan Bonny.
Ein paar Stunden Grenzüberschreitung
Dies alles ist hohe Regie-Kunst: Colonna schafft es, dass das Publikum Figuren versteht oder sogar liebt, deren Verhalten man nicht gutheißen kann. Die wir die Moral der Amoral nachvollziehen. Es gibt nichts Besseres, als wenn Kino das leistet, und wir selbst im Film für ein paar Stunden unsere Grenzen überschreiten.
Das sind die Filme, für die man wirklich ins Kino geht.