Cannes 2024: Überraschungssieger, Enttäuschungen und ein kleines Meisterwerk

Filmstill zu "Le Royaume"

Filmstill zu "Le Royaume".

(Bild: ©CHI-FOU-MI PRODUCTIONS - GHJUVANNA BENEDETTI)

Bodyhorror-Schocker von David Cronenberg, der Polit-Punk Edward Limonow und ein großartiger Gangsterfilm von Julien Colonna beim Festival von Cannes.

"Ich träume von einem gewaltsamen Aufstand. Ich werde niemals ein Nabokov werden, ich werde nie in der Schweizer Prärie auf Englisch sprechenden, haarigen Beinen Schmetterlingen hinterherlaufen. Geben Sie mir eine Million – ich kaufe dafür Waffen und sorge in egal welchem Land für einen Aufstand."
Edward Limonow

"We breath fear. We eat fear. That's what keeps us alive."
aus: "Le Royaume"

Er war ein Nichts und ein kleiner König, ein Maulheld und ein erfolgreicher Poet, ein narzisstischer Dandy und ein liebevoller Liebhaber, Vater und Freund. "Als unbedeutender Rebell ging er ins Gefängnis. Als er entlassen wurde, war er ein Liebling der Medien", heißt es einmal im Film – dieser Mann der Gegensätze war Edward Limonow (1943 – 2020), eine der schillerndsten Figuren der jüngeren russischen Geschichte.

Als Dissident wurde er 1973 ausgewiesen, zunächst nach New York, wo er eine Weile in bitterer Armut lebte. Dann zog er nach Paris, wo er sich schnell in die postmoderne, von Punk und New Wave inspirierte Literaturszene integrierte, und schrieb in 15 Jahren 17 Bücher, die immer erfolgreicher wurden.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kehrte er in die untergehende UdSSR zurück. Dort gründete er eine Partei ("National-Bolschewistische Partei", NBP), die manche für faschistisch hielten, die aber von Oppositionellen wie der Journalistin Anna Politkowskaja und der Sacharow-Witwe Jelena Bonner geliebt wurde, weil sie Putin mutig herausforderte, und die vielleicht doch vor allem ein Kunstprojekt war, das Traditionen der sowjetischen Avantgarde der Zwanziger 'Jahre wieder aufnahm.

Er wollte nur spielen: Provokateur und Ästhet mit Hang zum Zynismus

Der Franzose Emmanuel Carrère setzte ihm mit seinem Doku-Roman "Limonow" bereits ein Denkmal zu Lebzeiten – das Buch ist Grundlage für den gleichnamigen Film von Kiril Serebrennikov, der jetzt bei den Filmfestspielen von Cannes gefeiert wurde und das Publikum spaltete.

Denn einerseits macht der Film, der sich auf wenige Schlüsselmomente konzentriert, deutlich, dass Limonow, der nur wusste, mehr zu wollen, als nur nach 30 Jahren in einer Fabrik zum sowjetischen Arbeiterhelden zu werden, seine vielen Begabungen nicht zu bündeln vermochte. So wurde aus dem traurigen Kleinbürgerkind eine verlorene Seele, ein politisch-künstlerischer, von Wut getriebener Anarchist, der sich charakterlich zum indifferenten Ästheten mit Hang zum Zynismus entwickelte, der auf allen Ebenen seines übervollen Lebens vor allem ein produktiver Provokateur gewesen ist. Er wollte nur spielen.

Allzu stark hält sich der Film mit Limows Zeit in den USA und seinem Liebesleben auf, zu wenig kommt die Politik in Russland seit 1991 vor, die Oppositionellen-Szene und die Bündnisse mit Kasparow und Dugin und das Parteienbündnis "Das Andere Russland". Völlig weggelassen wurde Limonows Beteiligung an der Belagerung Sarajewos und am Serbienkrieg aufseiten des Massenmörders Karadzic.

So lebte der Film vor allem durch die glänzenden Bilder von Kameramann Roman Vassyanov und durch seinen Hauptdarsteller Ben Whishaw – der einst den Massenmörder in "Das Parfüm" spielte und einen glänzend-abgründigen Limonow gibt.

Regisseur Kiril Serebrennikov ist zum vierten Mal im Wettbewerb und selbst Putin-Gegner und Dissident. Seit 2022 lebt er im Exil in Deutschland – in diesem Film dürfte er auch sein eigenes Schicksal spiegeln. Bei der Pressekonferenz am Montag verwies er auf aktuelle politische Prozesse gegen Künstler und klagte Putins Regime offen an. Dass ein Preis in Cannes ausblieb, war zu erwarten, dafür ist "Limonow" politisch zu kontrovers, eine Anerkennung aber war dem Film sicher.

Bodyhorror von David Cronenberg und Coralie Fargeat

Eine der größten Enttäuschungen im Wettbewerb war selbst für eingefleischte Fans der neue Film von David Cronenberg: "The Shrouds" handelt von einem Bestatter (Vincent Cassel), der von Tod und Verfall besessen ist, und per avancierter Technik eine Art digitales Weiterleben nach dem Tod in digitalen Grabtüchern nobel gestalteten, komplett in Schwarz gehaltenen Edelfriedhöfen möglich machen will.

Der konfuse Plot passte immerhin gut zum untergründigen roten Faden des Wettbewerbs: Immer wieder begegnet man den Sujets Tod und Nachleben, Erinnerung und Erinnert-werden. Oder Filmen, in denen das Sterben und der Abschied im Zentrum standen. Bei Francis Ford Coppola, Jean Luc Godard, Leos Carax, Paul Schrader, Christophe Honoré und eben Cronenberg wurde dies immer neu variiert.

Nur ist "The Shrouds" leider vor allem ein stinklangweiliger Film. Kino wie eine verlaberte Proseminararbeit oder ein Hörbuch: Die Figuren reden fortwährend, während sie in halbdunklen Räumen herumstehen. "The Shrouds" hat dagegen keine visuelle Ebene, die einzigen interessanten Bilder sind die der Grabtücher, die der von Vincent Cassel gespielte Bestatter gestaltet. Dazu kommen ein paar sehr schlichte Ideen über Künstliche Intelligenz und eine Verschwörung, an der jetzt halt die Chinesen schuld sind.

Einen solchen schlichten Film hätte der Cronenberg vor 20, 30 Jahren nie gemacht, sondern selbst verachtet und schlecht gefunden. Denkt man daran, was dieser Regisseur einst für Bilder gefunden hat, wie in seinen ersten Jahrzehnten alles Visualität war, und der Dialog-Text nur ein Vorwand, um bestimmte Bilder zu zeigen, während es sich heute umgekehrt verhält, erschüttert dieser Film noch mehr.

Nicht viel besser verhält es sich mit "The Substance", dem diesjährigen Schocker-Film im Wettbewerb. Er wurde in den USA mit US-Darstellern gedreht, stammt aber von der Französin Coralie Fargeat.

Demi Moore spielt eine Frau, die im Fernsehen eine erfolgreiche Körper-Ertüchtigungssendung macht, zunehmend aber feststellt, dass auch ihre Jugend nicht ewig währt. Ausgerechnet an ihrem 50. Geburtstag erfährt sie durch Zufall, dass sie der Chef des Senders durch eine deutlich Jüngere ersetzen will.

Werbefilm-Glätte und Blutfontänen

So gerät Elizabeth in Versuchung, sich die titelgebende Substanz einzuverleiben – mit dem Ergebnis, dass sich aus ihr eine junge Frau von großer erotischer Verführungskraft herausschält, wie ein Küken aus dem Ei: Sue (Margaret Qualley), eine bessere Version von Elizabeth. Beide teilen sich fortan ihr Leben, doch vorhersehbar gerät alles außer Kontrolle.

Aus dieser offensichtlichen und nur im Offensichtlichen liegenden Handlung kann man jede soziokulturelle Überlegung ableiten, die man daraus ableiten möchte: Man kann die durch Männerfantasien in der Unterhaltungsindustrie erzeugten Stereotypen und ihre schädlichen Folgen für viele Frauen hinterfragen.

Man kann darüber nachdenken, wie das männliche Begehren das Modell einer idealtypischen und geradezu künstlichen Schönheit entwirft, der die Realität nicht standhalten kann. Die Menschen fühlen sich gezwungen, gegen den Lauf der Zeit anzukämpfen. Man kann von einer Anprangerung von Altersdiskriminierung sprechen. Der Film legt nichts besonders nahe und weist nichts zurück, er ist einfach beliebig.

Formal ist er aufgenommen wie ein Werbefilm. Alles ist zu schön, zu ausgeleuchtet, zu glatt. Dialoge gibt es kaum, und die Dialoge, die wir hören, bewegen sich auf dem intellektuellen Niveau eines Kindergartens.

Der Film gefällt sich selbst auch zunächst in dieser Glätte. Nach etwa zwei Stunden verwandelt sich die Fabel aber in einen makabren Albtraum, in dem die schlanken Frauenkörper sich in Monster verwandeln, und in Fontänen von Blut gebadet werden.

Die Hauptschwäche von "The Substance" ist aber, dass er seine eigenen Regeln nicht befolgt, und in sich komplett inkonsistent ist. Einem Publikum, das dies für "Postmoderne" hält, hielt auch den Film für ein starkes feministisches Statement, glücklicherweise speiste ihn die Jury in Cannes mit einem Nebenpreis ab.