Chaos auf dem Weg zum organisierten Chaos
USA: erste große Maßnahmen nach dem Hurrikan - Die mentale Krisenverarbeitung führt zu bestürzenden Erkenntnissen
Wichtige Deiche sind in New Orleans repariert worden, das Flutwasser wird in den See Pontchartrain zurückgedrängt, Zufluchtsorte für die Hunderttausenden von Heimatlosen bereitgestellt; die Hilfs- Aufräumungs- und Umsiedlungsmaschinerie im Katastrophengebiet im Süden der USA ist in vollem Gange.
Der Präsident war erneut zu Besuch im Krisengebiet, bemüht das angeschlagene Image zu verbessern, was bei manchen auch den erwarteten Stimmungswandel auslöst. "Mit ihm wird die 'Power' zurückkehren". Tatsächlich scheint die Elektrizität an manchen Orten wieder zu hergestellt zu sein; dennoch sind noch etwa 900.000 Haushalte ohne Strom, wie die Washington Post berichtet.
Das Chaos bewege sich in Richtung organisiertem Chaos, so die Lageeinschätzung des 2. Polizeichefs von New Orleans, W.J. Riley: "Es ist jetzt besser", gab er der Presse bekannt. Erste Zeichen von Zuversicht also, der Schock allerdings ist noch nicht überwunden. "Die Stadt ist zerstört, vollkommen zerstört."
Schätzungen über die Zahl der Toten, wie etwa vom Bürgermeister New Orleans, Ray Nagin, ausgegeben, gehen noch immer in die Tausende. Bislang veröffentlichte Zahlen melden allerdings nur 200; offizielle Stellen räumten demgegenüber aber ein, dass sich die Öffentlichkeit trotz dieser geringen Zahlen (vom Montag) auf eine erheblich größere Dimension einstellen müsste. Viele der Toten sind noch gar nicht geborgen, Zählung und die Identifizierung sind problematisch. Die Bergung der Verbliebenen hat Vorrang. Zumal Seuchengefahr droht.
Etwa eine Million Menschen haben ihr Dach über dem Kopf verloren, geblieben ist den meisten von ihnen nur das, was sie anhatten und in einer Tasche unterbringen konnten, eine riesige Menge Obdachloser – "displaced citizen" im offiziellen Sprachgebrauch -, die meisten sollen jetzt in umliegenden und entfernteren Staaten untergebracht werden – auf Monate hinaus. Texas soll seine Aufnahmekapazität bereits erschöpft haben, Michigan, Utah und Kalifornien haben ebenfalls zugesagt, Flüchtlinge aufzunehmen. 114.000 sind in Notunterkünften von West Virginia bis Utah bereits untergebracht worden, Texas soll 54.000 aufgenommen haben.
Währenddessen schlägt auch die mentale Krisenverarbeitung einen anderen Gang ein: Kompetenzstreitigkeiten und Schuldzuweisungen zwischen lokalen Behörden und US-Regierungsbehörden werden deutlich, die Forderung nach "Köpfen, die rollen müssen" größer. So hat etwa die The Times-Picayune, Louisianas größte Zeitung, in den letzten Tagen über die Grenzen des Bundesstaates hinaus bekannt geworden durch eine Artikelserie, welche vor der Katastrophe gewarnt hatte (vgl. "Gleichbedeutend mit Fahrlässigkeit"), in einem offenen Brief gefordert, dass der Präsident doch alle leitenden Repräsentanten der FEMA (Federal Emergency Management Agency) feuern sollte. Entsprechende Forderungen werden wohl bald auch das Heimatschutzministerium erreichen.
Unendlicher "Zyklon der Armut"
Erwartungsgemäß sorgt auch die "Blamage" und die Armut großer Bevölkerungsschichten in den USA, die sich in der Folge der Katastrophe offenbart haben, für weiteren Diskussionsstoff. So vergleicht der bekannte Kolumnist der New York Times, Nicholas D. Kristof, in der heutigen Ausgabe, das Schicksal amerikanischer Kinder aus armen Familien mit dem von Kindern aus ärmeren Ländern und kommt zu verblüffenden Ergebnissen:
Indeed, according to the United Nations Development Program, an African-American baby in Washington has less chance of surviving its first year than a baby born in urban parts of the state of Kerala in India.
Der Hurrikan, so Kristof, habe ein größeres Problem sichtbar gemacht: die steigende Zahl der Amerikaner, die in einem unendlichen "Zyklon der Armut" gefangen sind. So habe das U.S. Census Bureau vor wenigen Tagen Zahlen veröffentlicht, wonach 2004 im Vergleich zum Vorjahr über eine Million mehr Amerikaner in Armut leben würden. Unter Clintons Präsidentschaft sei die Zahl zurückgegangen, unter der Präsidentschaft von George W. Bush um 17% höher gestiegen.
Eine weitere Signalzahl, die Kindersterblichkeit, sei ebenfalls unter Bush zum ersten Mal seit 1958 gestiegen. So könne man die armen Kinder, die aus New Orleans geborgen werden konnten, beinahe glücklich schätzen, da sie jetzt ärztliche Behandlung bekämen, eine Art Luxus, da 29% der amerikanischen Kinder im letzten Jahr nur unzureichend krankenversichert waren und die meisten weder ärztliche Behandlung erfahren noch notwendige Impfungen verabreicht bekommen hätten.