Chemiekeule auf dem Kartoffelacker

Kartoffeln (Sorte Nicola). Bild: Freud / CC BY-SA 4.0

Wollen wir wirklich nur normgerechte Kartoffeln essen?

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Früher wurden Entlaubungsmittel im Vietnamkrieg eingesetzt. Heute werden sie von den Bauern kurz vor der Ernte auf die Felder gespritzt, um Kartoffeln zu erzeugen, die den Anforderungen des Marktes genügen. Das giftigste dieser Mittel ist Diquat. Schalenfestigkeit bei Frühkartoffeln und längere Haltbarkeit - das sind Eigenschaften, die sich der Handel von Kartoffeln wünscht, die auf den Äckern in der EU heranwachsen. Das Kontaktherbizid Diquat lässt diese Wünsche wahr werden: Indem es die Photosynthese in der Pflanze blockiert, sterben, ähnlich wie durch Glyphosat, alle oberirdischen Pflanzenteile ab.

Die Kartoffeln reifen lediglich nach. Drei Wochen später können sie geerntet werden. Der Wirkstoff ist in mehreren Herbiziden enthalten und wird, einer Empfehlung der Luxemburger Landwirtschaftskammer zufolge, mehrfach mit mehrtägigem Abstand ausgebracht. Die erste Spritzung erfolgt, wenn die ersten Kartoffeln etwa 6 cm groß sind.

Auf diese Weise landen in Deutschland jedes Jahr etwa 250 Tonnen Diquat auf den Feldern. Lassen sich Rückstände von Diquat in den Kartoffeln nachweisen? Diese Frage stellte sich ein Fernsehteam von 3sat. Es ließ Proben mit Kartoffeln und Kraut in einem Labor untersuchen. In allen Proben konnte das Gift nachgewiesen werden. Eine Krautprobe wies einen besonders hohen Wert von 4 bis 6 mg je Kilogramm auf.

In der Kartoffel, die zu dem Kraut gehörte, wurden 0,01 mg Diquat gemessen. Nur ein Bruchteil davon gelange in den Magen-Darm-Trakt, sagen Experten. Grenzwerte für Diquat gibt es nicht, die Verbraucher würden es schließlich nicht essen, argumentieren die Behörden.

Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und Natur

Glaubt man Peter Clausing, Vorstand des Pestizid Aktions-Netzwerk e. V., ist der Wirkstoff, der sich im Boden anreichert, für Wasserorganismen und Vögel hochgiftig. Er schädigt die Nerven genauso wie auch ungeborenes Leben. In den letzten Jahrzehnten habe es allein in Großbritannien 13 tödliche Vergiftungen durch Diquat gegeben.

Was geschieht, fragt der Toxikologe, wenn die Anlagerungsmöglichkeiten des Bodens, auf den Diquat ständig ausgebracht wird, irgendwann ausgeschöpft sind? Wird das Gift dann ins Grund- oder ins Trinkwasser gespült?

Als man in einem Versuch Schweinen Diquat injiziert hatte, wiesen die Tiere Symptome auf, die an die Parkinson'sche Krankheit erinnerten. Wenn es nach einer Spritzung regnet, die Luft sich erwärmt und das Gift über den Wasserdampf am nächsten Morgen über die Ackergrenzen weht und sich in der Umgebung ausbreitet, werde es womöglich auch von den Anwohnern eingeatmet.

Clausing befürchtet, dass die Aufnahme über Nase und Lunge bei Menschen ähnliche Symptome wie bei den Schweinen hervorrufen könnte. Wissenschaftlich untersucht wurde dies aber bisher nicht. Dabei wäre eine genaue Untersuchung aller Auswirkungen auf Mensch und Natur längst überfällig

Einem Info-Papier des Wisconsin Department of Natural Resouces zufolge wird Diquat auch in Gewässern eingesetzt, um Unkräuter zu bekämpfen, die als Futterpflanzen für Wasservögel dienen. Der Wirkstoff schade Wasserorganismen wie Amphipoden (Flohkrebse) und Daphnien (Wasserflöhe) nachhaltig, heißt es darin. Außerdem verursacht das Gift schwere Haut- und Augenreizungen, und es wirkt als Gift, wenn es durch die Haut absorbiert, inhaliert oder verschluckt wird.

Glaubt man den Grünen, werden gegenwärtig auf deutschen Äckern 50 Prozent mehr Pestizide eingesetzt als 1995, obwohl die Wirkstoffe immer toxischer werden. Chemisch-synthetische Stoffe in den Agrarlandschaften sind verantwortlich dafür, dass Ackerwildkräuter verschwinden und infolgedessen der Bestand an Schmetterlingen, Wildbienen und vielen Vogelarten zurückgeht.

Wo die Insekten aussterben, fehlt auch anderen Tieren die Nahrung. Mitverantwortlich sind die Ackergifte auch für das Sterben der Amphibien, wie eine Studie von 2013 zeigt. So sind Kröten, Frösche, Lurche etc. sind durch Chemikalien besonders gefährdet. So wird zum Beispiel die Gelbbauchunke, die im Wasser lebt, immer seltener.

Kleine Kartoffeln fallen durch das Raster

Kartoffeln, die in den Handel kommen, müssen bestimmten Anforderungen in Form und Größe genügen. Was die Natur ansonsten an seltsam geformten Früchten hervorbringt, wird aussortiert. Die EU bestimmt, wie eine Kartoffel auszusehen hat und wie groß sie sein muss - idealerweise 65 Millimeter.

In dieser Größe würden sich Kartoffeln nicht nur am besten verpacken lassen, sondern seien sie auch bei Verbrauchern besonders beliebt. Für kleinere Kartoffeln wird kaum Geld gezahlt. Diese Vorgaben setzen vor allem die kleineren Betriebe unter Druck, die ohnehin mit Kartoffel-Importen aus südlichen Ländern konkurrieren müssen.

Jedes Jahr werden tausende Tonnen Obst und Gemüse vernichtet, weil sie nicht den von der EU vorgegebenen Maßen entsprechen. Laut einer Studie des Thünen-Institutes von 2013 liegen die Kartoffelverluste hierzulande bei rund fünf Prozent. Das entspricht etwa 537.000 Tonnen.

In der Schweiz gehen mehr als die Hälfte der Kartoffelernten entlang der Wertschöpfungskette verloren. Das zeigt eine Studie von 2015 an der Forschungsanstalt ETH. 25 Prozent wurden bereits bei der Ernte aussortiert, unter anderem solche, die nicht der Norm an Größe und Gewicht entsprachen.

Beim Großhandel fielen 12 bis 24 Prozent durchs Raster. Im Einzelhandel gingen etwa ein bis drei Prozent verloren. Beim Konsumenten hingegen landeten 15 Prozent im Abfall. Unterm Strich war mehr als die Hälfte der Erntemengen verloren gegangen. Während aussortierte Kartoffeln in der Landwirtschaft oder beim Großhändler noch als Tierfutter dienten, würden sie in Privathaushalten auf den Müll geworfen.

Lösungsansätze sehen die Wissenschaftler beispielsweise in der Züchtung neuer Sorten Vor allem aber müssten die Konsumenten umdenken und auch kleinere oder verformte Kartoffeln akzeptieren.

Kartoffelanbau ökologisch

Manche Bio-Bauern nennen ihre Unkräuter Beikräuter. Und diese werden nicht "bekämpft", sondern reguliert, meistens mechanisch, manchmal auch thermisch. Doch egal, wie oft gehackt oder gestriegelt wird, es gibt immer einige blühende Wildkräuter, die trotzig auf dem Acker zurückbleiben und die eine oder andere Wildbiene erfreuen. Das Geheimnis liegt in der richtigen Sortenwahl und dem Anbau geeigneter Zwischenfrüchte mit diversen Getreidearten und einem hohen Anteil an Leguminosen.

Diese erhöhen die Fruchtbarkeit im Boden, der wiederum zahlreichen Bodenorganismen einen attraktiven Lebensraum bietet. Und nebenbei bringt ein gesunder Boden gesunde, unbelastete Früchte hervor.

Sofern das Kraut überhaupt entfernt werden muss, geschieht dies durch eine Kombination aus Abschlegeln und Abflammen, ist dem Bericht zum Einsatz verschiedener Krautregulierungsverfahren bei Bio-Kartoffeln der Landwirtschaftskammer Niedersachsen zu entnehmen. Neben den Beikräutern wird auch der Stärkegehalt in der Kartoffel reguliert.

Natürlich ist es am einfachsten, mit der 24-Meter-Spritze ein paar Mal über den Acker zu fahren. Doch geht das letztendlich zu Lasten von Menschen, Tieren, Böden, Luft, und Grundwasser. Immer mehr Ackergifte lassen unsere Lebensgrundlagen nach und nach erodieren. Schöner und schneller konsumieren für noch mehr vergiftete Böden, Gewässer und immer weniger Artenvielfalt in den Agrarlandschaften?

Angesichts abnehmender Artenvielfalt und zunehmender Zivilisationskrankheiten stellt sich die Frage, wie lange wir uns die chemische Vernichtung der Natur noch leisten können. Und wollen wir wirklich nur normgerechte Kartoffeln essen?

Die Natur, die unsere Nahrungsmittel hervorbringt, ist vielfältig. Sie lässt sich nicht auf Normgrößen reduzieren. Es braucht einen grundsätzlichen Wandel der Wertvorstellungen - beim Handel, beim Verbraucher und auch beim Bauern. Kleine wie große Kartoffeln verdienen dieselbe Wertschätzung, genauso wie die vielen anderen Lebensmittel, die normalerweise im Müll landen.