Chicago und der Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft
In einem brilliant geschriebenen Buch ist es dem italienischen Soziologen Marco d'Eramo gelungen, eine Geschichte des amerikanischen Geistes mit der Geschichte einer Stadt und einer konkreten Lebenswelt zu verbinden, die in vielem vorbildlich für die Weltgesellschaft werden könnte und heute schon deren Ideologie prägt.
Amerika, die neue Welt, ist, so scheint es noch immer, unser Schicksal. Nur sind die Entwicklungen in den USA auch heute wieder äußerst ambivalent. Man fürchtet in Europa die Amerikanisierung der Verhältnisse und ist noch immer gebannt von der Dynamik des Marktes, der technischen Entwicklung und den Individualisierungschancen. Amerika fasziniert uns Alteuropäer gleichzeitig und stößt uns ab.
Besonders in den amerikanischen Städten mit ihren riesigen Suburbs, den ständig umgebauten Vierteln, den abweisenden Cities mit ihren Hochhäusern, den manchmal entleerten Zentren und ihren Gettos, in denen Gewalt an der Tagesordnung ist und inmitten des reichsten Landes eine Armut wie in der Dritten Welt herrscht, scheint eine Entwicklungsmöglichkeit des Kapitalismus auf, vor der wir Europäer uns fürchten, weil sich diese Tendenzen allmählich auch bei uns zeigen.
Mike Davis hat in seinem wegweisenden Buch City of Quartz Los Angeles als die Stadt der Zukunft beschrieben. Jetzt liegt von einem italienischen Soziologen anhand von Chicago eine "Geschichte unserer Zukunft" in deutscher Übersetzung vor, die mindestens ebenso imponierend ist.
Chicago ist zwar nicht wie Los Angeles der Kern der amerikanischen Illusions-, Computer- und Rüstungsindustrie, aber es hat die Geschichte der industriellen Moderne wesentlich geprägt und ist gewissermaßen die Hochburg des amerikanischen Kapitalismus, der sich heute anschickt, zum globalen und unvermeidbaren Modell zu werden. Geschickt verwebt d'Eramo seine archäologischen Ausflüge in die Stadtgeschichte, deren Monumente ohne Ressentiment meist bereits zerstört und durch andere Bauten ersetzt wurden, mit allgemeineren Reflektionen über die amerikanische, vom Laissez-faire-Kapitalismus und von anti-staatlichen Ideologien geprägte Wirklichkeit.
Innerhalb von 100 Jahren ist aus einem kleinen Dort eine Metropole geworden. Einst ein Zentrum für die Erschließung des Westens durch die Eisenbahn wurde Chicago später zur Stadt des Holzhandels und der Schlachthöfe, in der man zur Zerlegung der Schweine das System der Fließbandproduktion erfand und in der konsequenterweise der McDonald-Konzern mit seinem standardisierten Fast Food seine Eroberung der Welt begann. Inmitten der Schlachthäuser, Fabriken und Eisenbahnanlagen und dem dauernden Zustrom von Einwanderern erstarkte zunächst auch die Gewerkschaftsbewegung. In Chicago geschah das erste anarchistisch motivierte Bombenattentat Amerikas. Brutal wurde darauf von der Staatsgewalt reagiert. Haymarket wurde zu einem Symbol für die Ohnmacht der Arbeiterbewegung.
In Chicago wuchsen die ersten Wolkenkratzer in den Himmel und wurde die neue Holzbauweise von baloon frames entwickelt. Dafür wurden und werden noch immer riesige Waldflächen abgeholzt, denn die meisten Menschen in den USA leben überraschenderweise in Holzhäusern. Deren Brandgefährdung und geringe Lebensdauer trägt mit dazu bei, daß der Durchschnittsamerikaner in seinem Leben dreizehnmal umzieht. Für einen Amerikaner ist trotz aller Mobilität das eigene Heim mit Grundstück in einem schönen Vorort ein geradezu mythischer Ort. Die standardisierten Mobilhäuser, halb Haus, halb Auto, und die Wohnmobile stellen einen typischen Kompromiß zwischen dem Wunsch nach dem Heim und der Mobilität dar.
Auch die Suburbanisierung, die für amerikanische Städte schon im letzten Jahrhundert prägend war, ist von diesem Traum gezeichnet und hat die Städte ins Umland ausbreiten lassen. Dazu trug vor allem die Pferdetrambahn und schließlich die elektrische Tram bei, die sich in Chicago rascher als in anderen Städten durchsetzte: "Die Trambahn ermöglichte Millionen von Menschen die Flucht aus dem Chaos, sie konnten jeden Tag in die Stadt kommen und wieder gehen. Aus der Stadt wurde das Stadtgebiet, das so weit reichte wie die Straßenbahnlinien." Der Individualverkehr durch die Autos beschleunigte diesen Prozeß und machte die Vororte noch weiter von den Zentren unabhängig. Während noch 1940 acht von neun Bewohnern Chicagos in der Stadt lebten, wohnen jetzt bereits zwei von dreien außerhalb. Das Zentrum entvölkert sich, viele fahren aus der Stadt in die Vororte oder von einem Vorort zu einem anderen zur Arbeit. In den Vororten wohnen mittlerweile die meisten Amerikaner. Hier bilden sich die Gemeinschaften und die sicheren Gettos der Mittelschicht, hier werden die meisten Ressourcen verbraucht und ist der öffentliche Raum tot, während die Stadtkerne den armen Schichten und den Gangs überlassen werden.
Schon früh begann in den USA die Trennung der Volksgruppen. Die neue Welt als Melting Pot war immer schon ein Mythos gewesen. Die Angehörigen der verschiedenen Nationen blieben stets zusammen und suchten ihre Kultur aufrechtzuerhalten. Einzig die Deutschen, die größte von Europa eingewanderte Volksgruppe, hat sich fast vollständig assimiliert und ihre Identität verloren. Amerika ist für d'Eramo das moderne Land, in dem wieder ein neues Kastensystem entstanden ist - und eine Politik, die auf der Grundlage ethnischer Kriterien geschieht. Besonders deutlich wird die Rassensegregation natürlich bei den Schwarzen. Sie wurden als billige Arbeitskräfte und als Streikbrecher seit Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Süden der Staaten nach Chicago geholt. Das verschärfte den bereits angelegten Rassismus und führte zu den Slums von heute. Die Schwarzen stellen bereits fast 50 % der Bevölkerung Chicagos, aber innerhalb ihrer Gettos tritt das brutale Gesicht Amerikas gegenüber den Verlierern besonders krass auf: Gleichgültigkeit.
Chicago ist von der Krise der Industriegesellschaft gezeichnet. Jetzt wurde es zu einem wichtigen Handelszentrum des Finanzkapitalismus. In Chicago entstand nicht nur die Schule der Stadtsoziologie oder hat Fermi den ersten Atomreaktor gebaut, hier befindet sich auch in der elitären University of Chicago das ideologische Herz des Wirtschaftsliberalismus - umgeben von Slums und als heile Insel gut von der deren sozialer Wirklichkeit abgeschirmt. Für die Schule von Chicago ist der Markt die "alleinige Quelle praktischer Vernunft." Jeder staatliche Regulierung ist verpönt. Hervorgegangen aus den Wirtschaftstheorien Friedrich von Hayeks, der hier 10 Jahre lang lehrte, und Milton Friedmans glaubt man an die alles heilende "unsichtbare Hand" des Marktes und ist der Sozialdarwinismus die prägende politische Ideologie. Alles sollte den Marktmechanismen und damit der Privatisierung und Kommerzialisierung unterworfen werden.
Allgemein verbreitet hat sich die Ansicht, daß das Öffentliche unvergleichlich viel ineffizienter und korrupter ist als das Private, daß der Markt weitaus transparenter ist als die Politik und damit die Macht des Kapitals ein weniger schmutziges Geschäft ist als die Politik. In dieser Verkehrung des Gemeinsinns liegt letztlich der Sieg der Chicago Boys - ein Sieg, der über den kalten Krieg hinausreicht, da große Teile der westlichen öffentlichen Meinung konvertiert wurden.
Marco d'Eramo
D'Eramo leugnet nicht seine eigene Faszination an der Kultur Amerikas. In seinem brilliant geschriebenen Buch ist es ihm gelungen, eine Geschichte des amerikanischen Geistes mit der Geschichte einer Stadt und einer konkreten Lebenswelt zu verbinden, die in vielem vorbildlich für die Weltgesellschaft werden könnte und heute schon deren Ideologie prägt.
Marco d'Eramo: Das Schwein und der Wolkenkratzer. Chicago: Eine Geschichte unserer Zukunft. Verlag Antje Kunstmann, München 1996. 462 Seiten.