Chilcot-Bericht setzt Blair unter Druck
Untersuchung dokumentiert Verantwortung des ehemaligen Labour-Premierministers für den Irakkrieg
Sir John Chilcot ist ein pensionierter hoher Beamter, der die letzten sieben Jahre damit zubrachte, in einem über zweieinhalb Millionen Wörter umfassenden Bericht den Irakkrieg und die Rolle der britischen Politik dabei aufzuarbeiten. Diesen Bericht, der den Zeitraum zwischen 2001 und 2009 behandelt, hat er heute Mittag der Öffentlichkeit vorgestellt. Darüber, was er im Detail aussagt, wird ob des schieren Volumens der Dokumentation wahrscheinlich erst in einigen Wochen oder Monaten Klarheit herrschen - es gibt aber bereits jetzt Hinweise darauf, dass er den ehemaligen Labour-Premierminister Tony Blair eher be- als entlastet.
Bei der Präsentation des Papiers hob Chilcot hervor, dass das Vereinigte Königreich seinen Erkenntnissen nach in den Krieg zog, ohne vorher die Möglichkeiten einer friedlichen Entwaffnung des Irak auszuschöpfen. Vorwürfe zu angeblichen Massenvernichtungswaffen mit einer Gewissheit seien als Tatsachen präsentiert worden, die nicht gerechtfertigt waren. Die rechtliche Grundlage des Einmarschs sei deshalb "weit entfernt von zufriedenstellend".
Von Saddam Hussein, den der US-Präsidentschaftbewerber Donald Trump inzwischen als hocheffizienten Terroristenbekämpfer lobt, sei 2003 keine "akute Gefahr" ausgegangen. Angemessen wäre deshalb nicht ein Einmarsch, sondern eine Fortsetzung der Inspektionen gewesen, was damals auch die Mehrheit im UN-Sicherheitsrat empfahl.
"Mr. Blair […] stimmen wir nicht zu"
Außerdem habe man die Konsequenzen eines Einmarschs trotz expliziter Warnungen unterschätzt und die Planungen und Vorbereitungen für die Zeit nach der Entfernung Saddam Husseins seien "völlig unzulänglich" gewesen. In der Frage, ob man die Risiken des Einmarschs 2003 vorhersehen konnte, widerspricht Chilcot Blair wörtlich:
Mr. Blair sagte der Untersuchungskommission, dass die Schwierigkeiten, denen man im Irak nach der Invasion begegnete, nicht vorab wissen habe können. [Dem] stimmen wir nicht zu. Die Risiken, dass im Irak interne Kämpfe ausbrechen, dass der Iran aktiv seine Interessen verfolgt, dass die ganze Region destabilisiert und al-Qaida aktiv wird, wurden vor der Invasion deutlich erkannt.
Gerade bezüglich des Wachsens der Gefahr durch al-Qaida-Anschläge im Vereinigten Königreich oder auf britische Interessen, sei Blair besonders explizit gewarnt worden. Gleiches gelte für die Gefahr, dass irakische Waffen und andere militärisch relevante Güter in den Händen von Terroristen landen.
Hinsichtlich der Frage, ob Blair Bush eine Kriegsteilnahme vorab versprochen hat, zitierte Chilcot ein vertrauliches Memo des damaligen britischen Premierministers an den damaligen US-Präsidenten vom Juli 2002, in dem der Labour-Politiker dem Republikaner recht eindeutig versichert: "I will be with you, whatever".
Auch Geheimdienstausschuss und Verteidigungsministerium versagten
Inzwischen ist Chilcot zufolge auch klar, dass die Geheimdienstinformationen, mit deren Hilfe der Krieg dem Volk vermittelt wurde, "fehlerhaft" waren. Diese Informationen wurden seinen Worten nach nicht vom Parlament hinterfragt, obwohl das die Pflicht des Geheimdienstausschusses gewesen wäre. Der hätte Blair klar damit konfrontieren müssen, dass die Behauptungen, der Irak produziere weiter chemische und biologische Waffen und versuche, Kernwaffen zu entwickeln, nicht "zweifelsfrei erwiesen" waren.
Das britische Verteidigungsministerium (MoD) war dem Bericht nach nicht nur darüber informiert, dass die US-Invasionspläne "unzulänglich" waren, sondern auch "besorgt", dass es keinen relevanten Einfluss auf diese Planungen nehmen konnte. Auf die von irakischen Freischärlern massenhaft eingesetzten improvisierten Sprengkörper (IEDs) reagierte das MoD nur langsam und stellte adäquaten Schutz für Soldaten und Fahrzeuge nur mit Verzögerungen zur Verfügung, "die man nicht hätte tolerieren dürfen". Die MoD-Mitarbeiter, die dafür konkret verantwortlich waren, hätten sich aber wegen einer der Aufklärung wenig dienlichen Befehls- und Zuständigkeitsstruktur nicht ermitteln lassen.
Blair versäumte es dem Bericht nach, die Planung und Vorbereitung des Krieges "flexibel, realistisch und mit ausreichend Ressourcen ausgestattet" zu gestalten. Das habe dazu geführt, dass bis Juli 2009 über 200 britische Bürger und mindestens 150.000 Iraker ihr Leben lassen mussten. Über eine Million Menschen wurde vertrieben. Die BBC-Politikredakteurin Laura Kuenssberg sieht in diesem Fazit zwar keine Überraschung, aber eine "komplette - wenn auch höfliche - Verdammung".
Blair glaubt weiterhin, die "Entfernung" Saddam Husseins sei nicht Ursache des aktuellen Terrors
Blair betonte nach der Vorstellung des Berichts, er habe damals in gutem Glauben gehandelt und das getan, wovon er annahm, es sei das beste für sein Land. Zu einem späteren Zeitpunkt will er ausführlich erklären, warum er weiterhin glaube, es sei besser gewesen, Saddam Hussein zu "entfernen" und warum diese Entfernung seiner Ansicht nach nicht die Ursache der Terrors im Nahen Osten und anderswo auf der Welt ist.
Der amtierende Premierminister David Cameron, der nur noch bis September oder Oktober weitermachen will, sprach allgemein von "Lektionen", die man aus dem Bericht lernen könne, schränkte aber ein, Perfektion sei nicht möglich.
Die Scottish National Party (SNP), die sich seit dem Misstrauensvotum der Labour-Abgeordneten gegen den aktuellen Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn als eigentliche Oppositionspartei im Westminsterparlament versteht, hatte sich bereits heute Morgen auf Blair eingeschossen: Die schottische Regionalregierungschefin Nicola Sturgeon twitterte, sie sei "einfach nur angeekelt" von ihm und ihr Vorgänger Alex Salmond meinte, die "Schlüsselfrage" sei, ob Blair dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush eine Kriegsteilnahme Großbritanniens bereits vorab zusicherte.
Auch der Londoner SNP-Fraktionschef Angus Robertson forderte, dass man nicht nur herausfinden müsse, wie es möglich war, wegen einer Lüge einen Krieg anzufangen, sondern auch, wer dafür persönlich verantwortlich war. Diese Leute müssen dem perfekt deutsch sprechenden ehemaligen ORF-Mitarbeiter nach "den Preis dafür zahlen". Das ist seiner Ansicht nach auch deshalb nötig, weil man in Afghanistan, in Libyen und in Syrien ähnliche Fehler gemacht hat.