Chile: Die "Flaites" kämpfen als die neuen Akteure an vorderster Front
Im Andenstaat ist die Geduld am Ende
In Chile hat eine neue Zeitrechnung begonnen, die Zeit vor dem 18. Oktober 2019 und die Zeit danach. Im Oktober wollte die U-Bahn, wie fast alle Dienstleister in privater Hand, die Fahrpreise erhöhen. Dies löste eine Revolte aus, die bis heute anhält. Über dutzende abgefackelte Einkaufszentren, hunderte niedergemachte Polizeireviere, Büros, Hotels, Banken. Jeden Freitag wird auf der Plaza Dignidad demonstriert, dem Platz der Würde, der vor dem 18. Oktober Plaza Italia hieß. Wasserwerfer versuchen mit Tränengas und Pfefferspray die Menge in Schach zu halten. Meist vergeblich.
Neue soziale Akteure, fern der Parteien und Institutionen, haben die chilenischen Eliten in Angst und Schrecken versetzt. Sie fordern keine niedrigen Fahrpreise mehr - sondern ein neues Gesellschaftsmodell. "Es steht an allen Wänden: Chile war die Wiege des Neoliberalismus und wird hier beerdigt werden" - sagt Marcelo Osses von Radio Dignidad, das aus dem 6. Stock die Proteste mit Musik beschallt.
Niemand hatte diese Revolte vorausgesehen, auch nicht die radikale Linke, die gegen die Diktatur bewaffneten Widerstand geleistet hatte, wie Marcelo Osses und Marco Riquelme. "Wir haben die Lügen, die uns ständig vorgekaut wurden, am Ende selbst geglaubt", so Riquelme. "Große Teile der Linken haben die neuen politischen Akteure nicht wahrgenommen, weil wir sie als unkultiviert verachtet haben. Und plötzlich wurde uns vor Augen geführt, dass es genau diese Leute waren, die das Heft in die Hand genommen hatten, um große politische Veränderungen zu erkämpfen."
Diese neuen Akteure kämpfen an vorderster Front ("primera linea"): die "flaites". Das ist ein Schimpfwort, am ehesten zu übersetzen mit: Proleten. Es sind Jugendliche aus den Vorstädten, ohne Bildung und ohne Zukunft, für die die Wirtschaft keine Verwendung hat. Flaites kümmern sich nicht um politisch korrekte Sprachregelungen, sie sind keine Veganer und haben, obwohl viele Frauen auf den Barrikaden sind, mit traditionellen Feministinnen wenig zu tun. Der Ursprung des Begriffs "flaite" ist unklar. Wahrscheinlich hängt er mit Turnschuhen zusammen, den Nike Air Flight, beziehungsweise mit den nachgemachten Schuhen aus China, die in der Piratenversion "flight air" hießen und ihre Nutzer Flaitiers.
Die Flaites haben keine zentrale Koordination, sind über das Land verteilt und machen an verschiedenen Orten dieselben Aktionen, meist mit Gewalt gegen Sachen. Die meisten gehen keiner geregelten Arbeit nach. "Auch wenn sie nicht über ein Klassenbewusstsein verfügen, wie wir es gerne hätten, besitzen sie einen ausgeprägten Klassen-Instinkt", so Riquelme. "Sie haben sich zum richtigen Zeitpunkt richtig positioniert."
Riquelme wirkt wie ein kleiner Junge, der gerade von der Existenz des Weihnachtsmannes überzeugt wurde. Er ist begeistert aber auch etwas neidisch: Während des 17 Jahre währenden Widerstandes gegen die Diktatur seien insgesamt nicht annähernd so viele Attentate verübt worden wie in den zwei Oktoberwochen durch die Flaites.
Dem konservativen Präsidenten Sebastián Piñera fiel angesichts der gewaltsamen Proteste im Oktober nichts Besseres ein, als von einem "Krieg" zu sprechen, eine Ausgangssperre zu verhängen und die Militärs einzusetzen. Doch trotz der zahlreichen Toten und Verletzten halten die Proteste an. Obwohl sie die Medien als "Chaoten" und "Randalierer" bezeichnen, lässt sich die chilenische Mittelschicht nicht abschrecken. Die jungen Leute kämpfen auch für sie, sprechen sie den Journalisten in die Mikrophone. Im Andenstaat ist die Geduld am Ende.
Im Hintergrund ziehen die Generäle die Fäden und setzen die Politiker unter Druck
1990 hatten sich Augusto Pinochet und seine Generäle nach 17 Jahren Militärdiktatur in ihre Kasernen zurückgezogen, doch ihr neoliberales Wirtschaftsmodell und ihre Verfassung blieben, bis auf einige kosmetische Veränderungen, intakt. Die Gewerkschaften hielten still, die Parteien - auch die linken - richteten sich im System ein und alle friedlichen Proteste verpufften - zuletzt die monatelangen Streiks der Oberschüler 2011. Erst als jetzt die Wut explodiert und Molotow-Cocktails landesweit Verwüstungen anrichten, ändert sich das Blatt. Nach der Repression bot Präsident Piñera Vergünstigungen an: Er erhöhte ein wenig den Mindestlohn und die Renten, verbot die Preiserhöhungen der U-Bahn und nahm eine US-Agentur unter Vertrag, die die Werbetrommel für "Frieden", "Ruhe" und "Normalität" rührt.
Im Hintergrund ziehen die Generäle die Fäden und setzen die Politiker unter Druck, auch Piñera. Er ist in ihren Augen zwar ein erfolgreicher Unternehmer, gehört aber nicht zur "familia militar". Er hatte eine Luxus-Haftanstalt geschlossen, in der die wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilten Militärs bequem ihre Strafen verbüßten; und er ließ Ermittlungen gegen korrupte Carabineros zu.
Mitte November stellten die Militärs den Politikern ein Ultimatum von 48 Stunden, um die Situation zu befrieden - man könnte das auch als einen kalten Staatsstreich bezeichnen. Christdemokraten und Sozialdemokraten gehorchten und beschlossen in aller Eile eine Volksabstimmung für Ende April 2020. Dann sollen in einem Plebiszit die 14 Millionen wahlberechtigten Chilenen erklären, ob sie 1) eine neue Verfassung wollen und 2) ob die verfassungsgebende Versammlung nur aus Bürgern oder zur Hälfte auch aus Politikern bestehen soll. Auf Letzteres setzt die Rechte, denn sie verbindet mit ihren Kollegen von der Opposition mehr als sie trennt.
Die Kommunisten wurden zu diesem Deal nicht hinzugezogen, aber bei der Debatte um ein härteres Strafrecht gegen Demonstranten enthielt sich die KP ihrer Stimme. Unabhängige Kandidaten, die nicht aus den Reihen der Parteien kommen, werden keine Chancen haben, als Wahlleute in die Versammlung gewählt zu werden. Sie müssten eine eigene Liste bilden und dafür Abertausende Stimmen sammeln, und jede dieser Stimmen muss von einem Notar beglaubigt werden. Jede.
Im Oktober sollen die Mitglieder der Versammlung gewählt werden, die dann ein Jahr Zeit haben, um eine neue Magna Charta zu erarbeiten. Aber wer wird da zur Wahl stehen? Die Proteste haben keine Sprecher, keine sichtbaren Köpfe, und die "Kaste der Politiker", wie die Chilenen sagen, hat vollkommen abgewirtschaftet. Allen Institutionen bescheinigen die Umfragen schlechte Noten, allen voran: der Regierung und den Berufspolitikern, aber auch der Justiz und der katholischen Kirche, die vor dreißig Jahren wegen ihres Einsatzes gegen die Menschenrechtsverletzungen großes Ansehen errungen hatte. Das ist nach den unzähligen Missbrauchsfällen vorbei. Die Journalisten der großen Medien wagen sich nicht mehr auf die Straße, weil sie Angst haben, dass man ihnen die Kameras zerstört.
Ein kleiner Teil der Bewegung will das Angebot der Regierung akzeptieren, meint Osses. "Sie sagen, dass schon viel erreicht wurde und jetzt ein möglicher Kompromiss nicht verbaut werden sollte, nämlich eine neue Verfassung." Die Meisten aber lehnen das ab und fordern grundlegende Veränderungen wie das Ende des privaten Renten- und Gesundheitssystems, Bildung für Alle.
Die Protestbewegung wird Piñeras Plebiszit boykottieren. Sie will nach den Sommerferien, also ab März, das Land durch noch massivere Proteste lahmlegen. Ein Plebiszit über die Inhalte einer künftigen Verfassung hätte wahrscheinlich eine Mehrheit gefunden, also eine Volksabstimmung über den Vorschlag eines staatlichen, allgemeinen und solidarischen Renten-, Gesundheits- und Bildungssystems. Doch der Plan Piñera sieht genau das nicht vor. Er will über diese Fragen diejenigen debattieren lassen, die 30 Jahren lang nichts geändert haben.
Über die Revolte in Chile hat Gaby Weber gerade einen Film (22 Minuten) ins Netz gestellt.
Der Film entstand ohne Finanzierung von dritter Seite; Spenden über
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