Chile und Südamerika: Ist nach der Revolte vor der Revolte?

Screenshot "Chile: Nach der Revolte – ein Zwischenbericht"

Bewegung in Chile uneins

Im Oktober 2019 begann in Chile eine monatelange Revolte. Millionen forderten auf der Straße ein Ende des Neoliberalismus: Gesundheit für Alle, würdige Renten und freien Zugang zur Bildung. Einkaufszentren wurden abgefackelt, hunderte Polizeireviere zerstört. Heute ist es relativ ruhig in Santiago, nicht nur wegen der Ausgangssperre, die seit März mit der Corona-Pandemie begründet wird.

Die Bewegung ist uneins. Wie in anderen Ländern des Kontinents hat sich die institutionalisierte Linke von den Aktivisten entfernt. Die Parteien, auch die linken, werden von der Straße als "Kollaborateure des Systems" abgelehnt, und selbst Menschenrechtsgruppen, die während den Diktaturen der siebziger Jahre staatliche Folter und Morde angeklagt haben, sind auffallend still geworden.

In der Innenstadt Santiagos sind noch deutliche Spuren der Revolte zu sehen: verriegelte Banken, Hotels und Geschäfte, und Parolen an allen Wänden. Immer wieder "ACAB". aEs ist die englische Abkürzung für "All Cops are Bastards", und weil das inzwischen verboten ist, wird das Datum 1.3.1.2 als Synonym benutzt, die jeweiligen Buchstaben des Alphabets.

"Paco Perkins", schallt oft den Polizisten entgegen. Paco steht für Bulle, Perkins für Lakai. Perkins war in einer Fernsehreihe der unterwürfige Butler, also der, der ohne Widerspruch das tut, was die Herrschaft von ihm verlangt. Auf diese Parole folgt oft genug der Strahl aus dem Wasserwerfer, dem Guanaco.

Chile: Nach der Revolte - ein Zwischenbericht (8 Bilder)

Screenshot des Dokumentarfilms von Gaby Weber

Heute ist eine Kundgebung auf der Plaza Dignidad geplant, dem Platz der Würde. Doch erschienen ist nur der harte Kern, etwa 200 Leute. Sie halten ein Transparent hoch: "Freiheit für alle politischen Gefangenen". Im Dezember haben fünf Senatoren der Opposition einen Gesetzesvorschlag für eine allgemeine Begnadigung eingereicht.

Immer noch befinden sich fast 650 Gefangene in Untersuchungshaft. Für die Regierung gibt es keine politischen Gefangenen, sondern nur Rechtsbrecher, und Präsident Sebastián Piñera hat sein Veto angekündigt, sollte die Opposition die nötigen Stimmen zusammen bekommen.

Mit einer Begnadigung sei man nicht einverstanden, heißt es auf der Kundgebung, von ihr könnten die staatlichen Mörder profitieren. Die politischen Gefangenen sollen raus, aber nicht mit einem Gnadenakt, denn sie seien unschuldig.

Fast 7.000 Chilenen nach Protesten in Untersuchungshaft

Die Familienangehörigen der Gefangenen hatten anderes im Kopf, als sie im Januar 2020 nach Valparaíso gefahren sind, um Senator Alejandro Navarro um eine "politische Lösung" zu bitten, erzählt Lilly. Ihr Sohn soll zwei Molotov-Cocktails geworfen haben, haben die Überwachungskameras ergeben. Er verbrachte einen Monat im Gefängnis, bis er in den Hausarrest entlassen wurde, damit er sein Abitur machen kann. Der Staatsanwalt hat acht Jahre Haft beantragt.

Fast 7.000 Personen sind im Rahmen der Revolte in U-Haft gelandet, viele wurden misshandelt. Ihre Angehörigen klopften an viele Türen. "Wir fühlten uns von den Menschenrechtsgruppen verlassen. Weder das Nationale Menschenrechts-Institut noch Amnesty International oder das Rote Kreuz nahm Kontakt mit den Gefangenen und mit uns auf."

Senator versprach, sich für eine Amnestie einzusetzen, doch dann wurde Navarro krank. Und plötzlich erhielten die Angehörigen einen Entwurf für ein Gesetz für eine allgemeine Begnadigung. "Wir fühlten uns übergangen", so Lilly, "offensichtlich sollten weder wir noch die Gefangenen mitentscheiden."

Die Gruppe der Angehörigen ist gespalten. Viele Eltern haben mit den Idealen ihrer verhafteten Kinder wenig gemein und suchen nach einer praktischen Lösung für ihre eigene Familie. "In ihrer Verzweiflung werden nach jedem Strohhalm greifen, auch wenn nur ihre Kinder aber nicht alle politischen Gefangenen rauskommen. Deshalb sind wir für ein Amnestie-Gesetz."

Carlos Margotta von der traditionsreichen chilenischen Menschenrechts-Kommission hat an dem Entwurf mitgearbeitet. "Wir wollten keine Amnestie, weil in Chile noch ein Amnestie-Gesetz der Diktatur existiert, das die Menschenrechtsverletzungen amnestiert. Trotz der Aufforderungen internationaler Gerichtshöfe wurde dieses Gesetz aus dem Jahr 1978 nicht annulliert. Wenn wir heute ein neues Amnestie-Gesetz verabschieden, würde es das Andenken an die Opfer und ihrer Angehörigen verletzen und die chilenische Regierung von ihrer Verpflichtung befreien, dieses alte Amnestie-Gesetz endlich aufzuheben."

Eine allgemeine Begnadigung sei kein Gnadenerweis, den der Staatspräsident für eine Einzelperson gewährt. Die allgemeine Begnadigung wird vom Parlament ausgesprochen und betreffe alle Personen, die in einem klar definierten Zeitraum verhaftet wurden. Das Gesetz sei ein "Akt der Souveränität".

Doch eine Begnadigung annulliert nur die Strafe, die im Vorstrafenregister verbleibt; nur die Amnestie annulliert auch die Straftat, erklärt Rechtsanwalt Nicolás Toro, Verteidiger mehrerer politischer Gefangenen. In den 30 Jahren Demokratie seien die Gesetze verschärft worden, wie das Waffenkontroll-Gesetz, und bei Verstoß droht grundsätzlich Untersuchungshaft.

Begnadigungen wären keine Lösung

"Neue Gesetze bezüglich Plünderungen und Barrikadenbau wurden beschlossen. Wenn es irgendwo knallt, machen sie sofort ein neues Gesetz, um das Problem zu lösen. Das ist strafrechtlicher Populismus, weil er nichts löst", so Toro. Und die Parteien, auch die Sozialisten, haben immer mitgestimmt. Deshalb haben die Gefangenen der Haftanstalt Nr. 1 die Delegation der Parlamentarier nicht empfangen.

Toro: "Die Menschenrecht-Bewegung hat mit den Protesten der vergangenen zehn bis 15 Jahre wenig zu tun, sie haben auch das Volk der Mapuche alleine gelassen. Sie wurde von den Parteien und der Verwaltung vereinnahmt. Dafür zahlte sie einen Preis und ist Verpflichtungen eingegangen. Heute verteidigt sie das System, während die Revolte einen Bruch will. Einige Menschenrechtsgruppen haben engere Kontakte zu den staatlichen Institutionen als zu den Leuten auf der Straße und verhalten sich gemäß ihrer eigener Interessen."

Im kommenden April sollen die Mitglieder der verfassungsgebenden Konvention gewählt werden. Fast 80 Prozent aller Chilenen hatten für eine neue Verfassung und für unabhängige Wahlleute gestimmt. Doch wirkliche Chancen haben nur die Kandidaten, die auf die Listen der Parteien gelangen.

Und die haben seit 30 Jahren bewiesen, dass sie in Sachen Gesundheit, Erziehung und Renten das neoliberale Modell fortführen, so die Hochschullehrerin und Sputnik-Korrespondentin Carolina Trejo. Für Änderungen an der Pinochet-Verfassung ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig. Die Rechte hat traditionell ein Drittel der Stimmen und damit ein Veto-Recht.

In der neuen Verfassung werden wahrscheinlich wohlklingende Allgemeinplätze festgeschrieben werden, ein Verbot von Diskriminierung wegen des Geschlechts, der sexuellen Orientierung und der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe. Vielleicht eine gender-gerechte Sprache. Politische Korrektheit kostet so gut wie nichts, und dann haben die sich als fortschrittlich Verstehenden eine Spielwiese, auf der sie sich austoben können. Auch das Gebot des Umweltschutzes könnte Verfassungsrang erhalten, aber mit dem Agro-Business, der Zellulose- und der Saatgut- und Pestizid-Industrie wird sich niemand anlegen wollen. Trejo:

"Man wird sich auf einige Grundsätze einigen können, während alle weiteren Details später von normalen Gesetzen festgelegt werden. Es ist einfach zu sagen: es gibt das Recht auf Gesundheit und die Rohstoffe, und später erklärt ein einfaches Gesetz dieses Recht für nachrangig und vergibt Konzessionen an die Konzerne. Bereits laut der Verfassung von 1980 gehören dem Volk die Bodenschätze, aber das Lithium wird trotzdem in den Händen des Schwiegersohns des früheren Diktators Pinochet verbleiben."

Die Konvention hat für die neue Verfassung zwei Jahre Zeit. "Wenn sie die Forderungen der Bewegung ignoriert", so die Journalistin Trejo, "wird es zu einer neuen Revolte kommen."

Gaby Weber hat über die Bewegung in Chile einen neuen Dokumentarfilm ins Netz gestellt

Der Film erhielt keine Finanzierung von dritter Seite. Spenden bitte über Paypal: gaby.weber@gmx.net oder Comdirect: IBAN DE53.2004.1155.0192.0743.00

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