Chiliasmus

Seite 2: Tun sie gut, oder machen sie krank, diese Vorstellungen?

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Aber auch in der wissenschaftlichen Theologie gibt es Vorstellungen vielleicht nicht gerade vom tausendjährigen Reich, aber doch von einer Hoffnung, die über die irdische Existenz hinausgeht. Und gerade im Christentum, so der Professor für Neues Testament Michael Tilly8, "ist die Vorstellung von den endzeitlichen Plagen und Drangsalen und vom katastrophalen Zusammenbruch dieser Welt kein finales Geschehen, sondern nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur endgültigen Erlösung und zum Heil."

Wer Geschichte so versteht, kann sich gegen alle augenscheinliche Realität zu einem persönlichen Glauben entscheiden und hinter der Angst vor dm Ende der Welt eine neue Hoffnung haben. Gerade apokalyptische Vorstellungen im Christentum beinhalten auch eine Heilskomponente, so Tilly, "indem die Erwartung eines Endes dieser Welt hier nicht als finaler Untergang gedeutet wird, sondern als Wendepunkt und Übergang in eine neue Welt des Heils, die in der christlichen Existenz zudem bereits in die Gegenwart hineinragt."

So die eine Sicht.

Man kann aber auch, wie der Psychoanalytiker Wolf-Detlef Rost9 hinter der Sehnsucht nach der Apokalypse "eine tiefsitzende Misanthropie, eine Menschenverachtung" sehen, wenn Leute ein moribundes Lebensgefühl haben und dann süchtig nach Katastrophen sind.

Moden des Chiliasmus und der Apokalyptik im konservativen Christentum

In konservativen christlichen Kreisen sind apokalyptische (und speziell chiliastische) Vorstellungen weit verbreitet. Aber die Vorstellungen wandeln sich weiter, wie schon zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert, unterschiedliche Aspekte werden wichtig, und außerdem sind Vorstellungen selbst manchmal mehr und manchmal weniger wichtig.

Überzeugte Chiliasten und Apokalyptiker nutzen alle möglichen und unmöglichen Ereignisse, um ihre Weltuntergangsstimmung und Endzeitvorstellungen zu verbreiten. Als etwa eine satanische Sekte in Detroit eine Satansskulptur aufstellen wollen, protestierten Christen, und der Baptist Carl Gallups nannte die "satanischen Aktivitäten einen Weckruf für Christen; daran könnten sie erkennen, dass sie in der Endzeit leben."10

Man versucht, große Namen für sich einzuspannen. So schrieb der Leiter des evangelikalen Nachrichtendienstes Idea, Helmut Matthies, in einem Nachruf auf den früheren hannoverschen Landesbischof Eduard Lohse: "Es gab nach ihm bisher keinen Ratsvorsitzenden, der einen Rechenschaftsbericht vor der EKD-Synode mit der Endzeit und der Wiederkunft Christi begann. Das war für mich als evangelikalen Journalisten geradezu ein inneres Missionsfest."11

Und sie rufen die gläubigen Christ auf, am Kampf gegen das Böse teilzunehmen, oder zumindest "gegen die Folgen des Bösen anzugehen", denn dem Bösen selbst "kann nur Jesus selbst im Namen des Vaters in der Kraft des Heiligen Geistes entgegentreten. Das ist unsere endzeitliche Hoffnung [...] auf Erlösung vom Bösen". Jesus hat zu Gott gebetet, dass dieser die Gläubigen vor allem Bösen errette, und im "Kampf gegen das Böse ist das Abendmahl die Speise des Lebens."12

Das endgültige Reich Gottes, also das ewige messianische Friedensreich, sollte so bald wie möglich kommen, finden viele Gläubige. Andere haben dagegen Angst vor seinem Kommen. Dies wissen auch Evangelikale. Und so eine Vorstellung, die Angst vor der Zukunft macht, ist heutzutage, im Zeitalter der Selbstoptimierung und des vorgeschriebenen Glücklichseins, nicht en vogue. Ein Dilemma für Evangelikale. Der gläubige Christ kann zum Kommen des Reiches Gottes beitragen, indem er dafür betet, aber er soll es nicht fürchten, so Oberkirchenrat a. D. Klaus Baschang:

Es gibt Menschen, zumal Christen, die Angst vor dem Kommen des Reiches Gottes haben. Sie kennen die Endzeitvorstellungen der Bibel (Matthäus 24,3ff; Offenbarung 15-20). Sie fürchten die schlimmen Ereignisse, die dem Kommen des Gottesreiches vorausgehen.

Aber, so der Autor, dies sei "ein besonderes Stück biblischer Seelsorge. Zu allen Zeiten haben verfolgte Christen genau darin Trost, Kraft und Hoffnung gefunden. Sie haben gesehen: Noch schlimmer kann es nicht werden, als es ihnen in den Verfolgungen zugemutet wird." Wer glaubt, er lebt in der Endzeit, kann sein Leid einordnen, "das ist eben gerade nicht das Ende der Weltgeschichte. Denn dahinter wartet das vollendete Reich Gottes - sichtbar, nicht nur im Glauben wirksam, sondern auch im Schauen erlebbar." Die Reich ist zwar da, aber noch nicht endgültig und vollendet. Darum: "'Dein Reich komme' sollen wir nach dem Willen Jesu beten - vorrangig sogar. Es ist ja gleich die zweite Bitte des Vaterunsers."

Das Problem der Endzeit: "Nicht immer kommen Betende am Martyrium vorbei." Wohl auch darum soll man um das Kommen des Reiches Gottes beten. Aber wie ist es mit uns? Heutzutage in Deutschland? Uns geht es gut: kein Krieg, keine Pest, keine Höllenangst, da kann man das Beten leicht einmal vergessen. Darum empfiehlt der Oberkirchenrat a. D.:

Eine große Hilfe für die Fürbitte sind Fürbittekalender. Sie helfen zur Regelmäßigkeit. Die Innigkeit des Gebets ist das eine, seine Regelmäßigkeit ist das andere. Es ist da wie auch sonst im Leben und im Glauben: Unsere Gefühle sind wichtig, sie brauchen aber eine äußere Ordnung, damit sie nicht verwildern oder verfliegen.