Chiliasmus

Seite 3: Ein typischer Weg im Wandel

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Der Oberkirchenrat a. D. empfiehlt einen Fürbittekalender, damit man nicht vergisst, für die Vollendung des Reiches Gottes zu beten. Kein Wunder: Sogar in einer besonders konservativen Freikirche, dem Bund Freier evangelischer Gemeinden (BfeG) (und wahrscheinlich auch in manchen anderen Freikirchen) werden die Wiederkunft Christi und das Jüngste Gericht heutzutage seltener gepredigt als früher, so ein FeG-Pastor: In einem Vortrag13 beschreibt er durchaus distanziert und humorvoll, wie er selbst immer wieder mit dem Thema in Berührung kam - und wie sich die Moden und die Auseinandersetzungen änderten: Mit 13 hörte er in der Jugendstunde von den Endzeitphantasien eines Hal Lindsey:

Damals erfuhr ich, dass das Tier mit den zehn Hörnern vermutlich die EU sei, der Antichrist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon lebe und der Dritte Weltkrieg unmittelbar bevorstehe.

Er interessierte sich sehr dafür, später aber las er andere - auch evangelikale - Literatur14, die solche Endzeitpanik abzubauen half. Mit der Zeit bildete er sich weiter, blieb dabei evangelikal, ließ sich an der Theologischen Hochschule Ewersbach, der Ausbildungsstätte des BFeG, ausbilden, und meint über die Apokalyptischen Erwartungen im BFeG:

Mir scheint, dass die Wiederkunft Christi heute ein Randthema ist. Das mag in einzelnen Gemeinden zwar anders sein; denn es kommt vor allem auf den Pastor an. Aber insgesamt scheint mir die Erwartung der Wiederkunft Christi eher in den Hintergrund gerückt zu sein.

Dem Erleben Scharwächters entspricht die Entwicklung in der Gesellschaft, in der die Prügelstrafe verboten wurde; und in der das Idealbild einer gewaltfreien Erziehung das Bild eines strafenden und vernichtenden Gott-Vaters in ein grelles Licht gerückt hat.

Scharwächter will dies Thema nicht verlieren, aber er will es anders predigen: "Wie können wir in unseren Gemeinden die Erwartung auf die Wiederkunft Jesu Christi neu stärken?", fragt er: "Wie können wir Vorfreude auf den wiederkommenden Herrn wecken, damit sie dann zum Tragen kommt, wenn es an der Zeit ist?" Der moderne Evangelikale will den Himmel predigen, so dass der Gläubige sich drauf freut; er will den Gläubigen seines Heils versichern und er will die Vorfreude auf eine Begegnung mit Jesus wecken.

Es gibt schließlich genug Gründe dafür, die Wiederkunft Jesu herbeizusehnen: Zwar gehe es einem Christen hierzulande gut, aber verfolgten Christen, etwa in Nordkorea, eben nicht. Der Christ hat Verantwortung in der Welt und für die Welt. "Dass die Welt immer gottloser wird, ist doch kein Wunder, wenn wir das Feld kampflos anderen überlassen."

Und wie steht es mit der Disco? "Wir kommen aus einer Tradition, in der die Trennung von der Welt einen hohen Stellenwert hat. Wir sind entstanden als Gegenbewegung zur Volkskirche, und die Trennung von Kirche und Staat ist für uns ein wichtiges Anliegen. Dazu kommt, dass wir ein intensives Gemeindeleben führen. Wer treues Mitglied einer FeG ist, der hat schlicht keine Zeit mehr, sich darüber hinaus groß zu engagieren."

Und Zeit, in die Disco zu gehen, hat man in vielen Freikirchen wahrscheinlich auch nicht.

Teil 3: John Nelson Darby und die Brüdergemeinden in den USA und Europa

Hinweis: Die Recherchen für diesen Artikel wurden durch ein Stipendium der Journalistenvereinigung netzwerk recherche gefördert und betreut. Die Autorin war früher selber Mitglied in einer evangelikalen Freikirche.

Der Text ist außerdem ein Auszug aus einem Telepolis-Mehrteiler über christliche Endzeitvorstellungen. In ihm beschäftigt sich Ulrike Heitmüller unter anderem mit Prämillenarismus, Postmillenarismus und Gruppen in den USA und Europa, die noch heute in einer Naherwartung leben. Außerdem untersucht sie den Konflikt zwischen judenmissionarischen Gruppen und der evangelischen Kirche und zeigt, welch religions- und kirchenpolitischen Zündstoff solche Vorstellungen bergen.