China verstehen und als Chance begreifen

Seite 3: Entscheidungsstrukturen in China und im Westen

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Die Unterschiede zwischen China und dem Westen treten besonders bei einem Vergleich der gesellschaftlichen Entscheidungsstrukturen zutage. In der Regierungstätigkeit westlicher Staaten widerspiegeln sich die Machtverhältnisse unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, die jeweils eigene Interessen verfolgen. Mehrheiten werden gesucht, Kompromisse angestrebt und vertraglich besiegelt. Freie Meinungsäußerung und ein gewisses Maß an Transparenz sind in diesem Prozess unverzichtbar. Allgemeine Wahlen, Gewaltenteilung und Minderheitenschutz bilden das notwendige Gerüst. Es wird angenommen, dass sich auf diese Weise der Mehrheitswille bestmöglich durchsetzt. Aber auch im Westen werden relevante Entscheidungen von den gesellschaftlichen Eliten getroffen. Innerhalb dieses engen Kreises herrschen tatsächlich Pluralismus und demokratische Prozeduren.

In China sieht die Regierung ihre primäre Aufgabe darin, die Lebensqualität der Bürger zu erhöhen und zu sichern. Die dazu erforderlichen Schritte und Etappen werden jeweils auf Parteitagen vorgestellt. Was als Ausdruck einer breiten demokratischen Willensbildung proklamiert wird, ist in Wahrheit das Werk von Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Die Herangehensweise ist recht pragmatisch, ideologische Argumentationen haben nach den traumatischen Erfahrungen der Kulturrevolution keine Chance. Die Stimmungen und Erwartungen der Bevölkerung werden eruiert und von den Verfassern der Beschlussvorlagen im Rahmen des wirtschaftlich Vertretbaren berücksichtigt.

Die Überlegenheit des westlichen politischen Systems wird damit begründet, dass Willkür und Korruption weitgehend ausgeschlossen werden. Dies scheinen globale Untersuchungen zu bestätigen, die für die Industrieländer des Westens einen deutlich geringeren Korruptionsgrad feststellen. China befindet sich immerhin im Mittelfeld, es lässt die meisten Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas hinter sich. Als Korruption werden allgemein Geld- oder anderweitige Zuwendungen angesehen, die mit dem Ziel getätigt werden, Gegenleistungen zu erhalten. Das im Westen verbreitete Zuschanzen von Jobs an Familienangehörige und Bekannte fällt allgemein nicht darunter, obwohl der finanzielle Nutzen oft um ein Vielfaches größer ist.

Durch Transparenz, pluralistische Strukturen und eine relative Unabhängigkeit der Medien sind in den westlichen Staaten Kontrollmöglichkeiten gegeben, über die China nicht verfügt. Wiederholte Anti-Korruptions-Kampagnen und gelegentliche Schauprozesse dürften keinen vergleichbaren Effekt erzielen. Ein wichtiges Drohmittel sind Jobverlust und damit einhergehende Einkommenseinbußen. Hier dürfte der Westen ebenfalls im Vorteil sein, wenn auch China zunehmend in die Position gelangt, Staatsbediensteten ordentliche Gehälter zu zahlen.

Für die chinesische Seite spricht hingegen der gesellschaftlich-moralische Druck, dem die Bürger stärker unterliegen als etwa in den USA. Werden Verantwortliche in der Pekinger Führung oder in lokalen Behörden der Korruption verdächtigt, dann nehmen westliche Beobachter implizit an, dass die Mittel für ein luxuriöses Leben verwendet werden. In China gilt jedoch die Zur-Schau-Stellung von persönlichem Reichtum in einem armen Umfeld als moralisch verwerflich. Die Autorität staatlicher Repräsentanten würde erheblich leiden, es käme zu Unzufriedenheitsbekundungen.

Dies nachzuvollziehen dürfte Vertretern der älteren Generation nicht schwerfallen, da Werte wie Genügsamkeit, Verantwortungsgefühl und Gerechtigkeitsempfinden das Leben in großen Teilen Europas prägten, bevor sie im Zuge der neoliberalen Wende sukzessive verdrängt wurden.

Gründe für den wirtschaftlichen Erfolg Chinas

Zur Erklärung des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas werden mehrere Gründe genannt: kulturelle und zivilisatorische Grundlagen, der Fleiß der Bürger, die Größe des Marktes, geschicktes politisches Taktieren. Dies mag alles zutreffen. Dennoch wäre der seit den 1980er Jahren einsetzende ökonomische Aufschwung ohne externe Unterstützung kaum derart kräftig verlaufen, zumal er sich auf eine starke Exportorientierung stützte.

Containerhafen in Shanghai (Yangshan Deepwater Port). Bild: Bruno Corpet (Quoique) / CC BY-SA 3.0

Die geschäftlichen Kontakte und Marketing-Erfahrungen chinesisch-stämmiger Experten aus Hongkong, Taiwan und Singapur bildeten einen wesentlichen Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg. Nur allmählich gelang es den Festlandchinesen, Einfluss auf die Exportproduktion und die Handelsbeziehungen zu bekommen. Der Sozialphilosoph William Thompson schätzte in seinem Werk "Die pazifische Herausforderung" die Auslandschinesen als erfolgreichste und dynamischste Volksgruppe bereits zu einer Zeit ein, als Japan noch allgemein als Wirtschaftsmacht der Zukunft galt. Gleichsam den europäischen Juden sind sie über viele Länder verstreut, in denen sie jeweils wichtige Positionen im Wirtschaftsleben bekleiden.

Zwei weitere Faktoren, die sich im Vergleich mit dem Westen als vorteilhaft erweisen, sind das große Vertrauen der Bürger und die Langfristigkeit wirtschaftlicher Entscheidungen. Das kürzlich eingeführte Punktesystem, mit dem sozial verträgliches Verhalten belohnt und entsprechend schädliches bestraft wird, wurde von der chinesischen Bevölkerung positiv aufgenommen. Eine Angst vor Missbrauch besteht augenscheinlich nicht. Die wirtschaftlichen Ziele werden weiterhin in Fünfjahresplänen fixiert, die im Unterschied zur sozialistischen Phase heute mehr als Orientierungsrahmen dienen. Überdies werden die Entwicklungstrends für einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten skizziert, um den Infrastruktur- und Forschungsbedarf frühzeitig feststellen zu können.

Die staatlichen Regulierungsmaßnahmen, die Förderung von Export und Forschung, Infrastrukturinvestitionen und der Ausbau sozialer Leistungen weisen Ähnlichkeiten mit dem "Rheinischen Kapitalismus" auf, wie er in der Bundesrepublik Deutschland während der Nachkriegsjahrzehnte praktiziert wurde. Trotz großer Unterschiede der gesellschaftlichen Entscheidungsstrukturen und der zu bewältigenden Herausforderungen bildet die an Keynes orientierte Wirtschaftspolitik offenbar den gemeinsamen Nenner. Eine Grundvoraussetzung für deren Gelingen ist das Primat der Politik.

Erfolgreicher Widerstand gegen neoliberalen Druck

Im Westen führte die neoliberale Wende seit den 80er Jahren zu einem tendenziellen Machtverlust politischer Instanzen. Staaten gerieten in Konkurrenz zueinander und sahen sich gezwungen, potentielle Investoren durch Vorleistungen, Steuerermäßigungen, günstige Kredite und Bürgschaften zu ködern. Damit Großsteuerzahler ihre Vermögen nicht in Steueroasen verschieben, wurden sie durch geringere Steuersätze und Verzicht auf Vermögensbesteuerung günstig gestimmt. Bei einer Repatriierung von Geld- und Anlagevermögen wurden Straffreiheit und Steuernachlässe zugesagt.

China gelang es, sich dem Druck global agierender Kapitalgesellschaften weitgehend zu entziehen. Als 1997 die Asien-Krise ausbrach, war es dank hoher Devisenreserven kaum betroffen und konnte die Exporte in der Folgezeit erheblich steigern. Einen weiteren Schub bewirkte der Eintritt in die Welthandelsorganisation im Jahr 2001. Der wachsende Mittelzufluss ermöglichte die Realisierung ehrgeiziger Infrastrukturvorhaben, was ausländische Investoren trotz Auflagen und Restriktionen zu einem verstärkten Engagement animierte. Einheimisches Kapital konnte akkumuliert werden, es wurden neue Wirtschaftsbereiche erschlossen, Produktionsstätten wurden in zurückgebliebene Regionen des chinesischen Hinterlands verlagert.

Obwohl sich die Lebensqualität nahezu aller Bürger verbesserte, sind die Einkommensdifferenzen in China weiterhin groß. Sie erklären sich zum einen aus der gezielten Förderung privater Kapitalbildung, die für das hohe Wirtschaftswachstum dienlich war. Zum anderen gibt es bis heute erhebliche Entwicklungsgefälle sowohl zwischen den Provinzen wie auch zwischen Großstädten und ländlichen Gegenden. Der Gini-Koeffizient, der die Verteilung der Einkommen beschreibt, überschreitet die Werte der meisten europäischen Länder. Dass er in den letzten zehn Jahren im Sinken begriffen ist, zeugt von erfolgreichen Schritten hin zu einer gerechten Verteilung. Die steigenden Werte in den USA dokumentieren dagegen ein wachsendes Einkommensgefälle.

Der Trend zunehmender Einkommens- und Vermögensunterschiede besteht in nahezu allen westlichen Industrieländern. Er erklärt sich zum einen aus den Zugeständnissen der Regierungen an Kapitaleigner, die als unverzichtbar gelten, um in der globalen Standortkonkurrenz zu bestehen und Steuerflucht zu verhindern. Zum anderen zwingen Arbeitslosigkeit und die Androhung von Produktionsverlagerungen die Bezieher geringer Einkommen in einen verschärften Wettbewerb mit der Folge von Geldeinbußen. Betroffene sind nicht nur Lohnempfänger, sondern auch Kleinunternehmer und manche Mittelständler.

Wie bereits Karl Marx konstatierte, sind Kapitalgesellschaften allgemein bemüht, sich dem Konkurrenzdruck zu entziehen. Gegenwärtig werden immer größere Teile der globalen Wirtschaft von Oligopolen beherrscht, die Märkte aufteilen, das Angebot kontrollieren und potentielle Rivalen am Aufstieg hindern. Als Käufer ziehen die großen Konzerne Nutzen aus der Konkurrenz der Anbieter, beim Verkauf können sie Monopolpreise durchsetzen. Während marktwirtschaftliche Mechanismen in China ihre produktivitätssteigernde Wirkung entfalten, werden sie im Westen in zentralen Wirtschaftsbereichen tendenziell eliminiert.