Chinas Rolle in einer neuen globalen Ordnung

Seite 2: China ist sich seiner selbst bewusst. Und der Westen?

Und Abstiegsängste und Wut (über eigenes Versagen?) sind ein schlechter Ratgeber für unsere Strategien, zumindest wenn wir eine kooperierende Welt des Wohlergehens für alle anstreben und keinen fragmentierten, "entkoppelten" Kalte-Kriegs-Käfig, mit alten statischen Umverteilungskämpfen und Ressourcenklau zulasten der Südhalbkugel. Man frage die Manager und Ingenieure der Konzerne, die den größten Teil ihrer Gewinne in China machen.

Und schließlich kann es uns nicht unberührt lassen, wenn die durchschnittliche Chinesin erkennbar besser über Deutschland informiert ist als umgekehrt (und die meisten Zuschauer der Online-Produktionen eines großen Berliner Theaters in China leben).

Strategische Selbst-Reflexion und die eigene Neuerfindung unter einer anderen globalen Struktur würden bedeuten, dass die Länder des Westens ernsthaft beginnen, ihre wirtschaftlich-industriellen, technologisch-ökologischen und sozialen Ziele für 2035, 2050, 2060 zu klären. Wer und was wollen wir dann sein und können?

Nur daraus fließt das "(sich seiner) Selbst-Bewusstsein", das es uns erlauben würde, auf Augenhöhe mit China über alles zu verhandeln. China erarbeitet sich dieses Selbst-Bewusstsein, und der jüngste 14. Fünf-Jahres-Plan ist zu Recht von westlichen Konzernen Wort für Wort durchanalysiert worden. Er ist in Vielem schlicht spektakulär.

Und China bietet nicht nur an, über alles zu verhandeln, es hat auch kein Interesse an wirtschaftlich schwachen Partnern, kein Interesse etwa an völlig deindustrialisierten USA, da es sich längst vom Export-Weltmeister-Modell verabschiedet und außenwirtschaftlichen Ausgleich erzielt hat (mit dem bekannten Corona-bedingten Ausreißer 2020). Chinas Exportüberschuss mit den USA beträgt inzwischen weniger als ein Prozent des chinesischen BIP.

Warum greifen wir solche Angebote nicht auf? Etwa aus Angst, dass unsere eigenen verknöcherten Strukturen der Finanzialisierung, Oligopolisierung, Oligarchisierung und Plutokratie, unsere neoliberal ruinierten Staaten und kollektiven Handlungsunfähigkeiten es nicht mehr zulassen, dass wir noch irgendwelche disruptiven sozialökonomischen Veränderungen (außer vielleicht noch die letzten Privatisierungen) überhaupt organisieren können?

Die Peinlichkeiten häufen sich, zumindest in den Augen der Welt: Während die Diplomaten der Welt nach Xinjiang reisen, schlagen die Diplomaten der westlichen Führungsländer das Besuchsangebot fadenscheinig aus. Die Defensivität lugt durch die Knopflöcher auch unseres Außenministers, von dem im Oktober niemand mehr spricht.

Bleiben wir realistisch und schauen wir genauer hin: China hat die Entwicklung von einem armen Entwicklungsland zum führenden Industriestaat und zur neuen Nummer eins auf den Grundlagen, die mit der sozialistischen Revolution und der Gründung der Volksrepublik 1949 geschaffen worden sind, erzielt.

Unter der neoliberalen Ägide der Pax Americana seit Ende der 1970er ist es außer China keinem größeren Land mehr gelungen (vielleicht noch Vietnam und einigen anderen Kleinen), nachhaltig aufzusteigen. Alle, vor allem der lateinamerikanische Hinterhof des Hegemons, sind ökonomisch in der "Falle des mittleren Einkommens", einer Degeneration steckengeblieben, mit erlahmter Produktivitätsentwicklung, mit Produktionsrückgängen, Deindustrialisierung, Dequalifizierungen zu reinen agrar- und Ressourcenlieferanten, mit oligarchischen Deformierungen und einseitigen außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Abhängigkeiten.

Als die USA aufwachten, war es zu spät

Der Hegemon und sein Anhang wollten Chinas Entwicklung lange Zeit gar nicht verhindern, konnten doch die umweltbelastenden und Billigproduktionen ebenso wie die eigenen Industrie- und Konsum-Abfälle elegant nach China und Südostasien ausgelagert und die eigene Ökobilanz geschönt werden.

Als Washington nach der großen Finanzkrise 2008 aufwachte, seine qualitativ verschlechterte globale Position und die Schwäche seiner wenigen verbliebenen Säulen (Wall Street/Dollar, IT-Oligopole und Militär) erkannte, es die Hoffnung auf eine neoliberale Einhegung Chinas in der WTO aufgeben musste und seine strategische Grundstrategie von Einhegung auf Konfrontation umschaltete, war es zu spät.

Dass China heute eine umfassende Reform-und-Öffnung 2.0 vornehmen kann, während die EU die enorme Chance des China-EU-Investitionsschutzabkommens (CAI) vermutlich verspielen wird, deutsche Konzerne, US-amerikanische Banken und weltweite Finanzinvestoren inzwischen nach Shanghai und Shenzhen wallfahren, dass sie dabei die Fakten würdigen, von sicheren Investitionsbedingungen, millionenfachem jungem Unternehmertum, guter Infrastruktur, guten Zulieferern und Facharbeitskräften, ökologischem Fortschritt, kluger industrieller Clusterpolitik, einem produktiven Experimentalismus, einer Leichtigkeit des Wandels bei den Menschen sowie qualifizierter und verlässlicher öffentlicher Handlungsfähigkeit, kann nicht anders denn als eine Position der Stärke Chinas interpretiert werden.

Ausländische Konzernmanager und Professionals würdigen es zum Beispiel auch, dass sie eine Beschwerdeinstanz beim chinesischen Ministerpräsidenten haben und Verbesserungsvorschläge machen können - und dass sie merken, dass dann meist auch schnell und effektiv gehandelt wird.

Unterschätzen wir also nicht, was seit 1949 an Produktivitätsentwicklung, Infrastruktur, Langfristplanung und Mentalität in den Tiefenstrukturen Chinas vorbereitet wurde, was lange Zeit auf der Oberfläche nicht erkennbar war und von China nicht an die große Glocke gehängt wurde.

850 Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit

China war nicht nur auf diplomatischem Parkett jahrzehntelang extrem zurückhaltend und ließ sich einiges gefallen, was es sich heute nicht mehr gefallen lässt. Wir haben uns angewöhnt, die ersten 30 Jahre der VR China als reine Chaos-Jahre mit Hungersnot, einem verfehlten "Großen Sprung nach vorn", kulturrevolutionärer Zerstörung (von den grünen Ex-Maoisten übrigens nie wirklich aufbereitet) usw., abzutun.

Sich auf diese "Oberflächen"-Entwicklungen zu fokussieren, wäre ein Fehler und würde uns daran hindern, dieses Land, dieses, ja, irgendwie ohne Zweifel und auf neuartige Weisen sozialistische, System und seine Zukunftsperspektiven richtig einzuschätzen.

Es konnte im Wesentlichen nach Reform-und-Öffnung 1.0, also ab 1978, und schon bis etwa Mitte der 2010er-Jahren, also in weniger als 40 Jahren eine Industrialisierung durchlaufen werden, für die die entwickelten, kapitalistischen Industriestaaten etwa 200 Jahre Zeit brauchten.

Und in dieser Zeit ist "ganz nebenbei" die kleine humanitäre Sensation gelungen, etwa 850 Millionen Menschen aus der absoluten Armut zu holen, die Früchte der Industrialisierung also auch nach unten zu verteilen.

Aber was in dieser Zeit an öffentlicher Planungs- und Handlungskapazität, an technologischer und ökologischer Kapazität, an Unternehmertum, Bildung, Lernwille und Reformoffenheit bei den Menschen entstanden ist, wäre ohne das "System", das 1949 errichtet wurde und das alles andere ist als das, was wir aus Europa kannten, das im Gegenteil wiederholt von Fehlern des alten Europa gelernt hat, nicht erklärbar.

Keine Frage, dass China auch massiv vom "alten" Kapitalismus und seinen etablierten Wohlfahrtsstaaten gelernt hat, technologisch, managementmäßig, und die Errichtung der sozialen Sicherungs-Systeme seit Ende der 1990er, gelernt nicht zuletzt von Deutschland, ist heute, produktiv eingebettet, ein Garant für die Leichtigkeit und die berühmte "China Speed" des Wandels.

Wolfram Elsner, geb. 1950, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Bremen (i.R.) und war Leiter des Bremer Landesinstituts für Wirtschaftsforschung. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher internationaler Publikationen und Lehrbücher und war Managing Editor, Forum for Social Economics, 2012-2019, sowie Präsident der European Association for Evolutionary Political Economy—EAEPE, 2012-2016. Internationale Lehraufenthalte führten ihn neben Europa nach Australien, Russland, Südafrika, Mexiko und in die USA, wo er als Adjunct Professor an die University of Missouri, Kansas City, tätig war, sowie seit 2015 als Gastprofessor an die School of Economics, Jilin University, Changchun, China, wo er u.a. Sommerschulen für Doktorand:innen organisiert hat. Seit 2019 ist er Editor-in-Chief des Review of Evolutionary Political Economy (REPE). Elsner veröffentlichte 2020 das Buch Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders (Frankfurt: Westend, 384 S.) und 2021 Die Zeitenwende. China, USA und Europa "nach Corona" (Köln: PapyRossa).

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