Chip im Kopf
Alles aufnehmen und abspeichern - Die Forever Lifestory
Jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte seines Lebens. Die einen setzen sich hin und verfassen mit 28 Jahren ihre Memoiren, die anderen posten jeden Tag ein paar Sätze in ihrem Weblog. Wer es nicht so mit dem Schreiben hat, filmt und fotografiert, am besten digital, dann lässt sich das Material bequemer aufbereiten. Sollte man auch dafür kein Talent haben, gibt es Heerscharen von geschäftstüchtigen Helferlein, die einem zur Hand gehen. Das Geschäft mit der persönlichen Geschichte boomt und bringt neue Berufsfelder zum Blühen. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel haben die Personal Historians bereits einen Verband gegründet und bieten auf über zweihundert Seiten Hilfestellung beim Verfassen, Verfilmen und Vertonen der eigenen Lebensgeschichte.
Was aber wäre wenn wir alles aufnehmen und abspeichern könnten, was wir tagein, tagaus hören und sehen? Wirklich alles, und zwar nicht mit Digicams, die man ständig aufladen muss, sondern mit einem Chip im Kopf, der Aufnahmegerät und Speicher zugleich ist. Wäre das der 'Digital Lifestyle', den die CeBIT 2004 als Motto auserkoren hat? Oder wäre so eine Wanze im Kopf der endgültige Einstieg in den Überwachungsstaat? Oder würde die Bilderflut zu Überdruss und letztlich dazu führen, dass sich jeder nur noch um seinen eigenen Kram kümmert? Man weiß es nicht, denn noch gibt es solche Gadgets nur im Film, beispielsweise in 'The Final Cut' von Omar Naïm, der im Wettbewerb der Berlinale 2004 lief und irgendwann auch in deutschen Kinos zu sehen sein wird.
Eingepflanzt wird der so genannte Zoë Chip bei der Geburt, so dass vom ersten bis zum letzten Atemzug auch wirklich alle Bilder und O-Töne eingefangen werden. Das Implantat nistet sich dauerhaft ein im Hirn, wächst mit und gedeiht und ist von außen weder zu erkennen noch nachzuweisen. Zunächst war das Implantat ein Spielzeug der Reichen, im Laufe der Zeit jedoch haben die Zoë Chips "das menschliche Miteinander von Grund auf geändert," heißt es im Katalog der Berlinale. Von dieser Veränderung ist im Film - abgesehen von den lautstarken Protesten der Chip-Gegner - allerdings wenig zu sehen. Ein Blick in das Rohmaterial beweist: bloß weil alles mitgeschnitten wird, leben die Menschen noch lange nicht tugendhaft. Zumal viele der solcherart Verwanzten nichts ahnen von ihrem Glück: Die Zoë Tech Company empfiehlt der Kundschaft, ihre aufgerüsteten Kinder erst im fortgeschrittenen Alter von 21 Jahren aufzuklären. Sterben die Eltern vorher, bleibt der Chip ein Geheimnis. Doch selbst wenn die Träger von ihrem Implantat wissen, können ihnen die Daten im Kopf herzlich egal sein. Schließlich dient der Zoë Chip nur einem einzigen Zweck: das Rohmaterial zu liefern für das so genannte 'Rememory', einen zweistündigen Film, der Freunden und Verwandten beim Begräbnis gezeigt wird und anschließend auf einem Bildschirm am Grabstein abgerufen werden kann.
Theoretisch ließen sich mit diesem Bild- und Tonmaterial jede Menge Verbrechen aufklären. Doch darum geht es den Herstellern der Zoë Implantate nicht. Ganz im Gegenteil. Die Aufgabe von firmeneigenen Cuttern wie Alan Hackman ist es, das im wahrsten Sinne des Wortes Beste rauszuholen aus dem Live-Mitschnitt. Beziehungsweise orientiert sich der Cutter an den Wünschen der Hinterbliebenen. Wenn zum Beispiel ein Sohn lieber einen Bootsausflug aus längst vergangenen Kindertagen mit den Augen des verstorbenen Vaters sehen will, statt den brutalen Schläger noch einmal in Aktion zu erleben, dann hat sich Hackman danach zu richten. Und nicht nur das. Er hat auch tunlichst zu vergessen, was an Monstrositäten über seinen Monitor flimmert. Selbstredend dürfen Zoë Cutter keine Zoë Implantate haben und unterliegen einem strengen Codex. Zum Beispiel dürfen sie das Material niemals Außenstehenden zeigen oder gar weiterverkaufen.
Wie der Titel bereits andeutet, geht es in 'The Final Cut' um die Herrschaft über die Bilder im Kopf. Schließlich gilt nicht nur in Hollywood: Ist ein Regisseur wirklich mächtig, dann hat er den 'Final Cut'. Übersetzt bedeutet das, er hat beim Schnitt das letzte Wort. Klingt nicht besonders aufregend, ist es aber. Denn erst im Schneideraum kommt ein Film wirklich zustande. Hier wird nicht nur darüber entschieden, was zu sehen ist, sondern auch, in welcher Reihenfolge. Die Schlüsselrolle bei diesem Prozess spielt der Cutter. Er bestimmt, wer wann den Raum verlässt und ob die Summe aller Einzelszenen am Ende einen Sinn ergibt. Übertragen auf das 'Rememory' bedeutet das, dass der Cutter entscheidenden Einfluss darauf nimmt, woran sich die Hinterbliebenen erinnern. Denn kaum etwas wirkt stärker als vorgegebene Bilder. Aus diesem Grunde lautet das Motto der Gegner des Zoë Chips: "Remember for yourself!" Schließlich sei Erinnerung eine persönliche Angelegenheit, die man weder Implantaten noch bezahlten Cuttern überlassen dürfe. Außerdem sei es das Wesen von Erinnerungen, im Laufe der Zeit zu verblassen.
Im Presseheft zum Film schreibt der Regisseur, 'The Final Cut' spiele "in einer Alternativwelt, in einem parallelen futuristischen Universum". Dabei ist das Szenario weit weniger futuristisch als der Film glauben machen möchte. Zum einen haben Implantate den menschlichen Körper, insbesondere Augen und Ohren längst infiltriert. Zum anderen gehört das so genannte 'Rememory' in den Vereinigten Staaten bereits zum Alltag. Es heißt bloß anders: Forever(r) LifeStory. Angeboten wird der Service vom Forever Network, das für 40 Dollar die Stunde einen 'Forever Biographer' zur Verfügung stellt.
Zwar basieren die 'LifeStories' nicht auf Material, das im Kopf des Verstorbenen eingefangen wurde. Ansonsten jedoch sind die Ähnlichkeiten frappierend: Ausgehend von den Wünschen der Betroffenen werden Bilder und Texte gesichtet, zu einem Film verarbeitet und nach dem Ableben im 'Forever(r) Theater' gezeigt. Auch der Bildschirm im Grabstein wird angeboten. Zugriff auf die 'LifeStories' haben nicht nur Freunde und Verwandte, sondern die ganze Welt. Erstens steht die Gesamtheit der 'LifeStories' sämtlichen Besuchern der 'Forever(r) Theater' kostenlos zur Verfügung. Zweitens ist die aktuell mit 11799 'LifeStories' bestückte Library of Lives komplett online.
Sieben Friedhöfe haben sich dem ForeverNetwork bereits angeschlossen. Am bekanntesten ist Hollywood Forever, auf dem zahlreiche Filmstars bestattet sind. Andere Friedhöfe befinden sich in Missouri oder Texas und tragen malerische Namen wie Forever Mount Hope oder Forever All Faiths. Darüber hinaus gibt es spezielle Gedenkstätten. Eine ist ausschließlich Haustieren gewidmet, eine andere Mord-Opfern. Letzteres ist geradezu makaber, denn der Name des Gedenkortes, Forever Homicide Victims, macht die Ermordeten für immer zu Opfern, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen werden sie auf ihre Opfer-Rolle festgelegt, zum anderen können sie sich nicht gegen die Zurschaustellung ihrer Lebensgeschichte wehren.
In 'The Final Cut' lässt sich zwar mithilfe elektromagnetischer Tattoos der eigene Zoë Chip untauglich machen, man kann jedoch nicht verhindern, in anderer Leute 'Rememory' aufzutauchen. Ein Umstand, der mit dem deutschen Recht schlichtweg inkompatibel wäre, weil durch die heimliche Filmerei elementare Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Betroffen wären insbesondere das Recht am eigenen Bild sowie das Recht am gesprochenen Wort und nicht zuletzt das Recht auf Wahrung der Privat- und Geheimsphäre, das hierzulande auch so genannten Personen der Zeitgeschichte zusteht. Und zwar nicht nur in ihren eigenen vier Wänden, sondern - mit Einschränkungen - auch im öffentlichen Raum. Der Film jedoch interessiert sich weniger für Grundsatzfragen als vielmehr für das stille Leiden seines Hauptdarstellers Alan Hackman, der als der Beste seines Fachs gilt.
Hackman gefällt sich in der Rolle des gleichgültigen Betrachters und sieht sich geradezu in der Tradition der so genannten Sin Eaters, die die Sünden der Verstorbenen symbolisch aufessen und damit aus der Welt schaffen. Wobei Hackman Sünden aus der Welt schafft, indem er sie quasi unter den Schneidetisch fallen lässt. Natürlich arbeitet Hackmann ausschließlich mit Aufnahmen des Zoë Implantats und damit rein digital, seinen Arbeitsplatz jedoch nennt er nach alter Cutter-Manier Guillotine. Dabei erinnert sein durchgestyltes Hightech-Holz-Pult weniger an ein Fallbeil als an einen Altar. Zur religiösen Aufladung des Sujets passt denn auch die Verklemmtheit des Protagonisten Hackman, der von Robin Williams ähnlich bemüht beseelt wird wie der Roboter in Der 200 Jahre Mann. Überhaupt kommt der Film nicht recht vom Fleck - selbst dann nicht, als Hackman damit beauftragt wird, das Rememory für einen korrupten Zoë Tech Manager aufzuhübschen. Statt den merkwürdigen Machenschaften des Konzerns nachzuspüren, verstrickt sich der Film in der Vergangenheit des Protagonisten. Einerseits ist es bedauerlich, dass der Film das Potential seiner durchaus faszinierenden Grundidee nicht konsequent ausschöpft, andererseits liegt er mit seiner Rückwendung ins Private voll im Trend, schließlich sind persönliche Lebensgeschichten schwer im Kommen.