Chirac lässt die atomaren Muskeln spielen
Frankreichs nukleares Waffenarsenal soll die freie Welt vor dem Terrorismus schützen
Noch 15 Monate stehen dem „serial loser“ Chirac, so wurde der Präsident nach dem verlorenen Referendum zur EU-Verfassung von der französischen Presse getauft, zur Verfügung, um zu zeigen, aus welchem Holz ein Staatsoberhaupt der Grande Nation geschnitzt ist. Denn neben den zahlreichen Wahlschlappen seiner bürgerlichen Regierungspartei UMP, gilt es nun auch die gesundheitlichen Probleme vom letzten Herbst vergessen zu machen, die daran gemahnen könnten, dass der 73-Jährige nicht nur politisch gesehen reif für die Pension ist. Eine neuerliche Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2007 scheint ausgeschlossen. Die Schlacht der Kronprinzen Villepin und Sarkozy ist bereits eingeläutet, und verdrängt Chirac zunehmend in den Schatten der medialen Aufmerksamkeit. Könnte da ein programmierter atomarer Paukenschlag, wie seine Rede zur Anpassung der französischen Nukleardoktrin vom 19. Januar, zurück ins nationale und internationale Rampenlicht führen? Auch wenn die kleine Erinnerung an Frankreichs stattliches atomares Waffenarsenal, die Rede ist hier von 250 bis 300 nuklearen Sprengköpfen, viele, und da vor allem die iranische Regierung, offenbar reizt?
Doch galt es wohl zunächst einmal der Welt und Frankreich zu beweisen, dass der Präsident wieder fest im Sattel sitzt und obendrein in seiner Funktion als Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte am nuklearen Drücker sitzt. In seinen traditionellen Neujahrswünschen an die Streitkräfte sandte Chirac die ausdrückliche Warnung an „Staaten, die terroristische Methoden gegen uns anwenden“, und an solche, „die beabsichtigen Massenvernichtungswaffen einzusetzen“. Die französische Antwort auf eine solche Aggression könne „sowohl konventionell, als auch nicht konventionell, sprich nuklear ausfallen“.
Wer sich an den „vitalen Interessen Frankreichs“ vergreife, wozu neben der Energieversorgung, der Infrastruktur und den Versorgungswegen, nun auch „befreundete Staaten“ gezählt werden, müsse mit den französischen Atomraketen rechnen. Die nukleare Abschreckung Frankreichs richte sich allerdings nicht gegen „fanatische Terroristen“, sondern gegen „regionale Mächte“, wie der Präsident weiter verlauten ließ.
Diese Anpassung der Nukleardoktrin an die neuen Erzfeinde der freien Welt, also die Terroristen, die nunmehr auf punktuelle, konzentrierte Angriffe anstelle der bislang angedrohten massiven Vernichtung setzen, ist allerdings so neu nicht. Schon knapp nach 9/11 hielt Chirac vor Experten der nationalen Verteidigung eine Rede, die bereits seinen Wunsch nach mehr Präzision, größerer Reaktionsgeschwindigkeit und Flexibilität der nuklearen „force de frappe“ enthielt, wie das Politmagazin Le Nouvel Observateur erinnert.
Von nun an galt es, gezielt etwa ein Terroristencamp, einen Bunker oder das Hauptquartier einer feindlich gesinnten Macht statt einer ganzen Stadt dem Erdboden gleich machen zu können. Der eventuelle Einsatz einer nuklearen Waffe erscheint in dieser Sicht der Dinge banalisiert, ist doch der angerichtete Schaden angeblich auf ein konkretes Ziel limitiert. Doch Chirac versichert sogleich, dass „es auf keinen Fall in Frage kommt, das Atomarsenal anlässlich eines Konfliktes zu militärischen Zwecken einzusetzen“. Die Atomraketen dienten nach wie vor vornehmlich der Abschreckung und dürften keinesfalls als taktische Waffen fürs Schlachtfeld angesehen werden. Warum Chirac erst jetzt diese Flexibilisierung der französischen Nukleardoktrin einer breiteren Öffentlichkeit zu Gemüte führte, lag laut dem „Nouvel Observateur ganz einfach daran, dass die neuen, präziseren Waffen 2001 noch nicht einsatzbereit waren.
Drei Jahre vor dem 11.September und seinen traurigen Folgen auf den Zustand der westlichen Demokratien, war die französische Nukleardoktrin endlich den neuen geopolitischen Gegebenheiten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion angepasst worden. Von nun an rückte Asien, und da vor allem China, ins Visier der nuklearen Abschreckung Frankreichs. In seiner diesjährigen Rede an die Streitkräfte stellte Chirac für 2008-2010 auch die Inbetriebnahme von neuen Atomraketen in Aussicht, die es dank einer Reichweite von 9 000 Kilometern ermöglichen sollen, China in Bedrängnis zu bringen.
3,5 Milliarden Euro jährlich fürs Atomarsenal
Die nukleare „force de frappe“, Hoheitsgebiet des Präsidenten, kostet den französischen Steuerzahler jährlich 3,5 Milliarden Euro, was 10% des Verteidigungsbudgets darstellt. 5.000 Personen arbeiten an der Aufrechterhaltung der atomaren Abschreckung. Chirac hat schon öfter klar gemacht, dass es völlig außer Frage stünde, die Ausgaben in diesem Bereich zu drosseln. Eventuell Sparwillige, wie etwa der rührige Innenminister Nicolas Sarkozy, werden vom amtierenden Staatsoberhaupt sofort zurückgepfiffen. Anlässlich von Verhandlungen zum Verteidigungsbudget musste der Innenminister denn auch ein „Ich entscheide, er führt aus“, über sich ergehen lassen. Übrigens bislang die einzige direkte Bezugnahme Chiracs auf seinen selbsternannten Möchtegernthronfolger.
Allerdings kommt die Kritik am kostspieligen Liebkind des Präsidenten nicht nur aus den Reihen profilierungssüchtiger Politiker, sondern wie die Tageszeitung Liberation zu berichten weiß, auch von den Militärs selbst. Dort würde der Ankauf von dringend notwendigen Hubschrauber den nuklearen Sprengköpfen bei weitem vorgezogen. Ganz abgesehen davon, dass einige Militärs die Sinnhaftigkeit von Nuklearwaffen im Kampf gegen den Terrorismus oder beim Einsatz bei regionalen Krisen, wie etwa an der Elfenbeinküste oder in Afghanistan, ernsthaft in Zweifel ziehen: „Es ist nicht die absolute Waffe. Es ist die ultimative Waffe“, zitiert die Zeitung einen Admiral.
Die nukleare Abschreckung Frankreichs, von General de Gaulle in den 50er Jahren „force de frappe“ genannt, ist luft- und wassergestützt. 85% der nuklearen Sprengköpfe der Nation fallen in den Hoheitsbereich der Marine, welche mit den „strategischen ozeanischen Streitkräften“ ALFOST, für die Permanenz der nuklearen Abschreckung sorgt. Die Marine verfügt hierzu über 4 Atom-U-Boote, sogenannte SSBN (Ship Submersible Ballistic Nuclear), die mit jeweils 16 Atomraketen zu je 6 Sprengköpfen ausgestattet sind. Das wären 96 Atombomben pro SSBN. Chirac kündigte in seiner Rede zudem an, dass man die Anzahl der Nuklearsprengköpfe in manchen Atomraketen teils bis auf einen Sprengkopf reduziert habe. Diese Reduktion soll das Gewicht der Raketen verkleinern, deren Reichweite verlängern und mehr Präzision erlauben. Die nuklearen Streitkräfte der Marine verfügen zudem über „Super-Etentards-Flugzeuge“, welche auf dem nuklear betriebenen Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ stationiert und ebenfalls mit Atomraketen bestückt sind.
Zweite Stütze der nuklearen „force de frappe“, sind die strategischen Luftstreitkräfte, die mit ungefähr 60 Mirages 2000-N und den dazugehörigen Piloten, 13% des Abschreckungsbudgets verbrauchen. Neuerdings soll die Armee auch über Bomben verfügen, die in extrem großer Höhe gezündet werden können, wie eine nicht genannte militärische Quelle Libération berichtete. Die Explosion dieser neuen Bomben erzeuge ein starkes elektromagnetisches Feld, das feindliche Kommunikationssysteme und Computer zerstören könne. Kostenpunkt dieser neuen Hightech-Bomben: unbekannt.
Doch Chirac scheut die Kosten nicht, ist doch die nukleare Abschreckung in seinen Augen „unvermeidbarer Bestandteil der Sicherheit des europäischen Kontinents“. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass innerhalb der EU nur noch Großbritannien über Atomwaffen verfügt. Verglichen mit dem mehr als stattlichen Atomarsenal der USA, die über 6.000 nukleare Sprengköpfe verfügen, wirken die geschätzten 250-300 Sprengköpfe der Grande Nation, die genaue Anzahl wurde nie veröffentlicht, wie Peanuts.
Frankreich und das „iranische Problem“
In vielen Ländern gedeihen zur Zeit radikale Ideen, welche die Konfrontation der Zivilisationen, der Kulturen, und der Religionen predigen. Heute verdeutlicht sich dieser Wille zur Konfrontation in abscheulichen Attentaten. Morgen könnte (dieser Wille) andere, noch schlimmere Formen annehmen, und ganze Staaten implizieren.
Chirac in seiner Rede zur Nukleardoktrin
Selbstverständlich habe der Präsident mit diesen seinen Erklärungen keinen präzisen Staat angepeilt, wie sich das französische Außenministerium sofort zu erklären beeilte. Deutlicher wurde jedoch General Henri Bentégeat, der in einem RTL-Radiointerview erklärte, dass der Iran und sein Nuklearprogramm einiges Kopfzerbrechen bereite, denn da ließen sich zur Zeit „extrem kriegerische Absichten“ erkennen.
Beim iranischen Parlamentspräsidenten Gholam-Ali Hadad-Adel scheint der kaum verdeckte Wink mit der französischen Abschreckung jedenfalls angekommen zu sein. Die den Terrorismus direkt implizierenden Erklärungen Chiracs zur aufgefrischten französischen nuklearen Abschreckung seien nur der Versuch des Präsidenten, das internationale Prestige der „Grande Nation“ wiederherzustellen, nachdem jüngst „verzweifelte Jugendliche (...) jede Nacht Hunderte von Autos verbrannten“.
Einstweilen schwelt der Konflikt rund um den iranischen Versuch, Uran anzureichern, munter weiter. Teheran hat die Internationale Atomenergiebehörde gebeten, ihre Überwachungskameras und Siegel von den iranischen Nuklearinstallationen bis nächste Woche zu entfernen zu entfernen. Am Samstag drohte Präsident Ahmadinedschad damit, dass der Iran sich vom Atomsperrvertrag zurückziehen könnte, falls der Westen weiterhin Druck ausüben würde.
Der französische Außenminister Philippe Douste-Blazy verkündete verkündet derweilen, dass sich Iran in Acht nehmen solle, denn man könne durchaus „gegen manche Staaten ökonomische Maßnahmen in Betracht ziehen“. Auch wenn Frankreich freilich einer diplomatischen Lösung des Konflikts den Vorzug geben würde. Chiracs atomare Muskelspiele werden jedenfalls nicht dazu beitragen, dass Staaten, die nicht über die nukleare Abschreckung verfügen, nicht weiterhin versuchen werden, atomar aufzurüsten. Ein Wettlauf ohne Ende?