"Codename Furtherance, Top Secret" - Neun Jahre Bereitschaft zum nuklearen Erstschlag

Die US-Regierung hat brisante Dokumente zur nuklearen Strategie 1959-68 freigegeben

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In den 1960er Jahren plante die US-Regierung, einen Nuklearkrieg auch aus geringeren Anlässen und flächendeckender durchzuführen, als offiziell bekannt war. Wären die USA damals konventionell angegriffen worden, oder wäre auf den Präsidenten ein tödliches Attentat verübt worden (oder dieser verschollen gegangen), dann sahen die streng geheimen Instruktionen einen atomaren Overkill vor, bei dem das US-Militär sowohl die Sowjetunion, als auch das damals noch nicht atomar bewaffnete China auslöschen sollte - unabhängig davon, wer verantwortlich gewesen wäre. Akten, die 1968 eine Abkehr von dieser Strategie eines quasi automatischen Armageddon dokumentieren, wurden nun gegen den Widerstand der Verantwortlichen freigegeben.

Die Bereitschaft der US-Regierung während der 1960er Jahre, einen präventiven Krieg gegen den Kommunismus mit einem atomaren Overkill zu führen, ist nunmehr aufgrund einer beim Interagency Security Classification Appeals Panel (ISCAP) hartnäckig erkämpften Aktenfreigabe noch umfangreicher dokumentiert. Unter dem Codename „Furtherances“ (Förderungen) hatte bereits Präsident Eisenhower Instruktionen vorbereitet, wie auf einen Angriff zu reagieren sei - mit aller Härte. Die Existenz von Vorabgenehmigungen für den Notfall zum Einsatz von Atomwaffen war ein so heikles Geheimnis, dass selbst Autoren streng geheimer Studien der US-Regierung über die Verwundbarkeit der Befehls-Kontoll-Kommunikation diese nicht diskutieren durften. Erste Freigaben zu diesem Thema hatten in den 1990ern für Schlagzeilen gesorgt.

Eisenhowers Instructions

Bereits 1957 hatte Präsident Eisenhower erste Pläne diesbezüglich vorbereitet, als das Land unter dem Eindruck des Koreakriegs, des Sputnik-Schocks und der McCarthy-Ära einer paranoiden Wahnvorstellung über eine angebliche „Raketenlücke“ aufsaß. Die CIA hatte gegenüber Eisenhower die Anzahl sowjetischer Interkontinentalraketen auf 500 taxiert, von denen sie wenige Jahre später mit den neu eingeführten Spionagesatelliten gerade einmal vier fanden. Die hieraus resultierenden "Instructions" Eisenhowers waren bereits 2001 freigegeben worden. Die Vorgaben bargen zwar einen gewissen Automatismus, waren aber keine Freibriefe für die Militärs, sondern sollten im Gegenteil deren Handlungsspielraum definieren. Ohne ggf. unmögliche Rücksprache mit dem Präsidenten durften atomare Waffen nur zur Abwehr von Objekten in der höheren Atmosphäre oder auf Hochsee eingesetzt werden.

Für den Fall, dass der Präsident bei einem sowjetischen Angriff auf die USA einmal nicht erreicht werden könnte, hatte der Commander des Strategic Air Command, einer ständig in der Luft befindlichen Bomberflotte, Befehl, das Gebiet der Sowjetunion mit Kernwaffen zu bombardieren. Auch im Ausland stationierte Kommandanten konnten bei Nichterreichbarkeit des Präsidenten nukleare Verteidigung anfordern, durften jedoch nicht eigenmächtig auch das sowjetische Territorium angreifen. Die Pläne sollten insbesondere in Krisen einen durch Militärs eigenmächtig herbeigeführten Dritten Weltkrieg vermeiden, wie es etwa während der Berlinkrise leicht hätte geschehen können.

SIOP-63

General Lemnitzer im Vereinigten Generalstab der Teilstreitkräfte (Joint Chiefs of Staff - JCS), 1960. Bild: US Navy

Im Kontrast zu den zur Verteidigungsszenarien gegen Angriffe beruhenden „Instructions“ entwickelten allerdings die Militärs des damals aus ultrarechten Hardlinern bestehenden Vereinigten Generalstabs 1960 den berüchtigten Single Integrated Operational Plan (SIOP), der den möglichst schnellen Aufbau eines gigantischen atomaren Potenzials vorsah, das ohne besonderen Anlass im Wege eines Überraschungsangriffs zur Vernichtung des Kommunismus in der Sowjetunion und in China hätte eingesetzt werden sollen.

Die Version SIOP-63 (bezogen auf das zu Finanzierung relevante Steuerjahr 1963), die der Chairman des Joint Chiefs of Staff, General Lyman Louis Lemnitzer im September 1962 Präsident Kennedy präsentierte, gilt als „verschollen“, ist jedoch sinngemäß längst durchgesickert. Für jeden militärischen Stützpunkt waren acht 20 Megatonnenbomben vorgesehen (in Stanley Kubricks satirischer Groteske Dr. Strangelove waren es gerade einmal drei). Die Zivilbevölkerung hätte zwei Wochen in Shelters den Fall Out abwarten sollen und wäre dann in eine Welt ohne Kommunismus zurückgekehrt. Die Tatsache, dass ein massiver Atomschlag einen nuklearen Winter zur Folge haben würde, war damals noch nicht erforscht. Nach Planung der Militärs sollte Ende 1963 die Erstschlagskraft so massiv sein, dass man den Überraschungsangriff effizient hätte durchführen können. Die Regierung Kennedy lehnte ab.

Flexible Response 1968

Die „Instructions“ wurden 1964 Präsident Johnson erläutert und zunächst abgesegnet. Im weltpolitisch besonders schicksalhaften Jahr 1968 stellte Johnson gegen Ende seiner Amtszeit die Pläne jedoch auf den Prüfstand. Sogar General Shoup, eigentlich einer der Hardliner, die den SIOP-Plan vertreten hatten, empfahl dringend eine Überarbeitung. Der Nationale Sicherheitsberater Walt Rostow bezeichnete die Revision als eine essenzielle Änderung, da die bisherige Situation „gefährlich“ sei und ohne Absicht zu einer nuklearen Katastrophe hätte führen können. Der gesamte Vereinigte Generalstab von 1968 (dem Airforce General LeMay und General Lemnitzer nicht mehr angehörten) bestätigte diesen Befund.

Der bereits von Kennedy mit Unverständnis aufgenommene Automatismus, bei irgendeinem Angriff sowohl die Sowjetunion als auch China anzugreifen, wurde aufgegeben. Stattdessen lautete nunmehr die Devise, einen Nuklearkrieg möglichst zu vermeiden und konventionelle Angriffe primär konventionell zu beantworten. Da inzwischen die Sowjets tatsächlich ein Gegenschlagspotenzial aufgebaut hatten, war der Verzicht auf einen Overkill hinsichtlich des nuklearen Gleichgewichts nur konsequent, zumal sich die Träume der Militärs von einem tatsächlich funktionierenden Raketenabwehrsystem nicht erfüllten. Auch China war inzwischen in den Kreis der Atommächte aufgestiegen. Die bislang streng geheimen Dokumente zu Johnsons Änderung der nuklearen Strategie wurden diese Woche erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

So vernünftig der Ansatz einer Begrenzung von atomaren Kriegen klang, so wurde durch die neue Strategie der „Flexible Response“ der Einsatz von Nuklearwaffen durchaus wahrscheinlicher, da ein solcher Fall während der zahlreichen Spannungen durchaus hätte eintreten können, während ein gegenseitiger nuklearer Vernichtungsschlag für keine der Seiten akzeptabel gewesen und daher von rational denkenden Strategen vermieden worden wäre. Ironischerweise wurde also die Gefahr eines Atomkriegs durch die Begrenzung erhöht.

Attentat auf den Präsidenten

Bemerkenswert an der bis 1968 geltenden Lage war die Planung, dass auch eine Tötung oder Nichterreichbarkeit des Präsidenten eine Freigabe der Nuklearwaffen zum totalen Einsatz gegen den „sino-sowjetischen Block“ ermöglicht hätte. Ein solcher Fall trat am 22.11.1963 ein, als der amtierende Präsident unter mysteriösen Umständen getötet wurde. Eben dieser Präsident hatte ja ein Jahr zuvor den Generälen ihren Wunsch abgeschlagen, Ende 1963 die atomare Vernichtung Chinas und der Sowjetunion durchzuführen, und gerade mit dem Weltraumvertrag die Durchführung von Erstschlägen erschwert. LeMay, dessen Verhältnis zu Kennedy sich nach der Kubakrise auf dem Nullpunkt befand, hatte nach dem Mord persönlich der rechtswidrigen zweiten Obduktion in einem Marine-Hospital beigewohnt. Seit Ende der 1940er Jahre hatte LeMay für einen atomaren Erstschlag votiert und dies später auch 1968 als Kandidat zur Vizepräsidentschaft offen gefordert.

Sofort nach dem Mord am Präsidenten war ein Mann mit Verbindungen sowohl zur Sowjetunion als auch zu Kuba beschuldigt worden, was aus Sicht der Militärs unter Berufung auf die Instructions einen nuklearen Vergeltungskrieg hätte legitimieren können. (Die Tatsache, dass der angebliche Attentäter auch mit diversen US-Geheimdiensten zu tun hatte, wurde erst später bekannt.) Kurz danach gab irgendjemand die Weisung aus, es handele sich um einen verwirrten Alleintäter. Gut möglich, dass dieser geheimnisvolle Entscheidungsträger die „Instructions“ kannte und lieber ein Mysterium in der amerikanischen Geschichte in Kauf nahm, als die Welt in einen Atomkrieg zu stürzen. Als der neue Präsident Johnson später erfuhr, dass etliche Kenner der Washingtoner Politik die Kennedy-Attentäter in Kreisen von CIA und Militär vermuteten, soll dies Johnson außerordentlich beunruhigt haben.

1981, als auf Präsident Reagan geschossen wurde, waren die Instructions längst Geschichte.