Computer - Daten - Macht
Europols Weg zum "Euro-FBI"
Eigentlich ist das Europäische Polizeiamt "nur" eine große, vernetzte Datenbank. Doch Macht über Daten entspricht im digitalen Zeitalter der Macht über Menschen. In die Kritik gerät daher die Datensammelwut der Europolizisten sowie die behördliche Praxis der unterschwelligen Aneignung von exekutiver Gewalt.
Peter Vowé kann sich über Arbeitsmangel nicht beklagen. Zusammen mit seinem Chef Jürgen Storbeck, der Anfang Dezember vergangenen Jahres zum Ersten Direktor von Europol ernannt worden war, baut "der Stellvertreter" die größte und mächtigste Polizeieinheit in Europa auf. Seine Macht wird das Europäische Polizeiamt, von dem Altbundeskanzler Helmut Kohl immer nur als dem "Euro-FBI" sprach, vor allem aus Datenbanken und ihrer Verknüpfung ziehen: Letztlich ist Europol nichts weiter als ein gewaltiges Computersystem mit einigen Beamten und Administratoren, die es bedienen und mit Daten füttern. Für den Input sorgen die nationalen Strafverfolgungsbehörden der momentan 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Profile von über einer Million Menschen sollen die Datenbanken in Den Haag, dem Sitz der Superbehörde, bald aufnehmen und miteinander verknüpfen können.
Für Vowé ist der Fall klar: Die geballte Computerpower ist notwendig, um eine "Antwort auf die Organisierte Kriminalität in Europa" zu geben. Ähnlich wie schon im Rahmen der 1990 verabschiedeten Schengen-Konvention, in der die Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den beteiligten Ländern vereinbart und gleichzeitig Regeln für eine extensive Polizeikooperation sowie vorsorgliche Überwachungsmaßnahmen der Bürger im Interesse der "öffentlichen Ordnung und Sicherheit" aufgestellt wurden, handelt es sich auch bei dem voraussichtlich 2001 voll funktionstüchtigen Europol-Computersystem um eine "Ausgleichsmaßnahme": Die physische Bewegungsfreiheit der Europäer wächst - gleichzeitig sollen umfassende Datensammlungen und ihre ausgeklügelte Analyse für eine effektive Verbrechensbekämpfung sorgen. Manifeste Grenzkontrollen werden durch subtile, computergestützte Überwachungsmethoden ersetzt.
Die Zeichen stehen auf Expansion
Die Aufgabengebiete und Kompetenzen Europols sind über die Jahre beständig gewachsen und die Zeichen stehen weiterhin auf Expansion. 1992 verlassen Storbeck und Vowé das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden und brechen zu neuen Ufern auf. Auf Grundlage des Maastrichter Vertrags über die Europäische Union vom Februar desselben Jahres, aber ohne jegliche weitere politische Legitimation, starten sie in Straßburg, dem "Sitz" des Schengen Informationssystems (SIS), in einer Baracke ihr sich zum Lebenswerk verwandelndes Projekt. Damals ging es noch allein um eine verbesserte Rauschgiftfahndung.
1994 verlegten die beiden Polizisten ihre Computer nach Den Haag, wo sie die Europäische Drogenstelle (EDS) gründeten. Diesmal konnten sie sich auf eine Ministervereinbarung der EU-Innen- und Justizminister berufen - eine völkerrechtliche Absicherung der Einheit fehlte aber weiterhin. Erst im Juni 1995 wurden auf dem EU-Gipfel in Cannes die eigentlichen Grundlagen des geplanten europäischen Polizeiamtes unter dem Namen Europol in einer Konvention festgelegt. Über drei Jahre lang dauerte es aber noch, bis das Europol-Übereinkommen von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wurde und die Geschäftstüchtigkeit am 1.10.1998 gegeben war. Zwischenzeitlich, erinnert sich Vowé, mußte man etwas tricksen und sich Personal über das Justizministerium der Niederlande "organisieren". Alle Regularien sollen dann letzten Endes bis zum Frühling abgesegnet werden, so daß Europol am 2. April 1999 nach all den Jahren des Hantierens in rechtlichen und politischen Grauzonen seine legitime Arbeit aufnehmen kann. Man könnte natürlich auch am 1. April beginnen, sagt Vowé. Bewußt habe man sich aber für einen Tag später entschieden.
Zu (April-)Scherzen ist bei Europol keinem richtig zumute. Ins Stammbuch sind der Behörde inzwischen außer der Drogenfahndung, die immer noch den Schwerpunkt der Ermittlungsarbeit bildet, Zuständigkeiten für Geldwäsche, Menschenhandel und Kinderpornographie, illegale Einwanderung, den illegalen Handel mit radioaktivem Material oder Autoschieberei geschrieben worden. Mandate für den Kampf gegen Terrorismus, Kreditkarten- und Eurofälschung sowie gegen allgemeine Betrugsdelikte vom Subventions- bis zum Umweltsektor sind dem Polizeiamt seit Anfang des Jahres zusätzlich übertragen worden.
Auch für den Bereich Internetkriminalität fühle man sich mehr und mehr zuständig, erklärt Vowé, selbst wenn man mit drei für diesen Bereich zuständigen Leuten noch am Anfang stehe: High-Tech-Crime bereitet dem langjährigen Kriminalbeamten "sehr viele Kopfschmerzen", da die Technik so schnell voranschreite und die Behörden zurücklägen. Daß neue Technologien auch eigene, verbesserte Sicherheitsmechanismen wie etwa biometrische Verfahren zum Schutz eines Autos oder Computers vor Diebstahl bieten, kann Vowés Kopfschmerzen nicht lindern: "Das führt zu abgeschnittenen Fingerkuppen", fürchtet der Verbrechensexperte. Die Tätergruppen würden durch die höheren Schranken zwar kleiner, aber auch härter.
Aus Information macht das Europol-Orakel "Intelligence"
Europol ist im Gegensatz zu nationalen Polizeibehörden und auch zum amerikanischen FBI (noch) nicht mit exekutiven Eingriffsmöglichkeiten ausgestattet. Hausdurchsuchungen oder Festnahmen durch Europolizisten seien "Zukunftsmusik", meint Vowé, der mit einer dahingehenden Ausweitung der Befugnisse in den nächsten 10 bis 20 Jahren rechnet. Bis dahin sind die Waffen in Den Haag allein die Daten, die von allen Institutionen im Strafverfolgungsbereich - also Polizei, Grenzschutz und Zoll - der EU-Nationen geliefert werden.
Von den momentan über 155 Europol-Mitarbeitern - bis 2003 soll das Personal auf 350 Experten aufgestockt werden - sind knapp ein Drittel Verbindungsbeamte, die weiterhin für ihre nationalen Einheiten tätig sind und für den reibungslosen Datenfluß sorgen sollen. "Dadurch haben wir sehr kurze Informationswege", freut sich Vowé. Während eine Anfrage oder Datenweiterleitung bei Interpol bis zu sechs Wochen dauern könne, seien in seiner Behörde "in wichtigen Fällen innerhalb von 10 Minuten" Informationen abzurufen oder abzugeben. Ein großes Plus sei auch, daß keine Sprachbarrieren existierten: Jeder nationale Polizist könne sich in seiner Muttersprache an seinen Ansprechpartner wenden.
Die eingegangen Daten werden im TECS (The Europol Computersystem) gesammelt, analysiert sowie aufbereitet und in dieser Form "veredelt" im Bedarfsfall wieder an die nationalen Stellen zurückgegeben, sofern sie in irgendeiner mit dem im Laufe der Zeit immer weiter gefaßten Europol-Mandat zusammenhängen. Bei allen strategischen und operationellen Problemen soll das übergeordnete Amt den einzelnen Strafverfolgungsbehörden mit einem "information design needed for action" und mit "controlled deliveries" weiterhelfen, wie Vowé in der informellen Arbeitssprache Europols erläutert. Information solle mit Hilfe der Computeranalyse in "Intelligence" verwandelt werden. Letztlich, sagt Vowé, verstehe sich das Polizeiamt als ein "Service-Unternehmen in allen Bereichen, in denen Einzelstaaten an Grenzen stoßen".
Besonders stolz ist der Mitbegründer Europols auf die "Trendbilder", die sich nur aus dem gigantischen zentralen Informationspool seiner Behörde erstellen lassen. Wenn in Hamburg beispielsweise festgestellt würde, daß der bisher überwiegend von Libanesen durchgeführte Drogenhandel auf der Straße verstärkt auf Russen übergehe, müsse man dieses Phänomen mit Entwicklungen in anderen Regionen vergleichen. Ähnlich aufschlußreich sei es, wenn man unter den 100 zunächst belanglos erscheinenden Telefonnummern eines Verdächtigen im Vergleich mit dem Verzeichnis eines Kriminellen plötzlich gleiche Ansprechpartner entdecke. "Wir können Dinge aus der Vogelperspektive betrachten, übereinanderlegen und so zu handgreiflichen Ergebnissen kommen", erläutert Vowé. Durch derartige Analyseprojekte könne man Trends in der Kriminalitätsentwicklung erkennen und Rückschlüsse auf Organisationen oder Zwischenhändler ziehen.
Perfekte Datenwaschanlage
Die aufwendigen Lagebilder schreien nach einer permanenten Fütterung mit unzähligen Bits und Bytes. Das Europol-Übereinkommen hat diesen schier unstillbaren Datenhunger aber berücksichtigt: die darin aufgeführten Personenkreise sind jedenfalls so weit gefaßt, daß man sich fragen muß, welche persönlichen Daten eigentlich nicht im Den Haager Analysesystem gespeichert werden dürfen. So finden etwa nicht nur Informationen über Straftäter und Verdächtige Eingang in die Europol-Computer, sondern auch über potentielle Täter, tatsächliche oder mögliche Zeugen, Opfer und zukünftige Opfer sowie über "Risikogruppen", die Kontakte zu Kriminellen haben könnten. Häufig sollen zudem nicht nur die zur Identitätsfeststellung unbedingt nötigen Daten erfaßt werden, sondern auch Informationen über die "Lebensweise" und "Gewohnheiten". Richterlicher oder staatsanwaltlicher Anordnungen bedarf die Einladung zum unbegrenzten Datensammeln nicht.
Die Datenaufnahme und Weitergabe ist zwar einem elaborierten Regelwerk unterworfen. Nur die Verbindungsbeamten haben vollen Zugriff auf die Datenbänke ihrer nationalen Strafverfolgungsbehörden. Haben diese Informationen aber erst einmal freigegeben, können sie in Analysedateien eingebaut werden und unterliegen dann nicht mehr der Verantwortung und den Datenschutzverordnungen des jeweiligen Mitgliedsstaates. Die nationalen Regelungen enthalten oft - wie etwa in Deutschland - strenge Festsetzungen über die Zweckbindung der Daten und Verwendungsbeschränkungen, Lösch- und Sperrvorschriften, Einwilligungserfordernisse oder sogar Akteneinsichtsrechte bei der Übertragung ins Ausland. Europol bemüht sich laut Vowé zwar auch um einen "hohen Datenschutzstandard", der für die Analysedateien in einem gesonderten Rechtsakt des Europäischen Rates niedergelegt ist.
Beim Lesen der Bestimmungen drängt sich allerdings der Verdacht auf, daß Daten, die einmal aus den nationalen Polizeiakten ins Analysesystem von Europol gewandert sind, ein kaum kontrollierbares Eigenleben entfalten. Ungesicherte Verdächtigungen, Hinweise und Vermutungen, die letztlich zu Stigmatisierungen und polizeilichen Vorverurteilungen gesellschaftlicher Randgruppen führen könnten, dürfen neben "harten" Informationen zunächst bis zu drei Jahre gespeichert werden. Sobald neue Daten über eine Person "anfallen", verlängert sich diese Frist aber und läßt sich so fast beliebig ausdehnen. Geradezu beruhigend wirkt da schon, daß "Daten, die auf Fakten beruhen", von Daten zu "unterscheiden" sind, " die auf Meinungen oder persönlichen Einschätzungen basieren."
Der Inhalt und die Verwendung personenbezogener Daten sollen zwar von einer Kontrollinstanz überprüft werden, in der jeweils zwei Datenschutzbeauftragte der Mitgliedstaaten sitzen. Letztlich trifft aber der Direktor von Europol die "erforderlichen Maßnahmen", um die Einhaltung der Datenschutzvorschriften sicherzustellen. Verantwortlich ist der oberste Polizist Europas zudem nur dem Rat der Justiz- und Innenminister, dem eine Reihe von Hardlinern angehören. Parlamente haben dagegen keine Kontrollbefugnis. Der Leiter von Europol kann deswegen wie ein "absolutistischer Fürst" regieren, fürchtet Thilo Weichert, Stellvertreter des Landesbeauftragten für Datenschutz in Schleswig-Holstein. Die Regelungen für die Polizeibehörde verstoßen seiner Ansicht nach "gegen grundlegende rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien". Das Datenschutzniveau des Europol-Übereinkommens tendiere außerdem gegen Null; das Computersystem eigne sich "vorzüglich" als "Datenwaschanlage", mit der nationale Datenschutzbestimmungen ähnlich wie beim Schengen Informationssystem umgangen werden könnten.
Kürzlich hatte die Zeitung "De Telegraaf" hatte berichtet, daß die EU-Polizei nach einem vertraulichen Protokoll mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet sei, "die nicht oder kaum kontrolliert werden", und letztlich wie ein "Art Geheimdienst" operiere. Doch eines geheimen Protokolls bedarf es nicht - das offizielle Europol-Übereinkommen reicht als "Ermächtigungsgesetz" weitgehend aus.
Türen eintreten und wegschauen - die Justiz sieht sich an den Rand gedrückt
Übergangen bei den sich einspielenden Europol-Praktiken sieht sich auch die Justiz. "Bauchschmerzen" bekam ein Mitarbeiter der Berliner Senatsverwaltung für Justiz während einer Vorstellung Europols durch Vowé beim Institut für Verwaltungsmanagement an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin vor allem bei der Beschreibung der "Controlled Deliveries", den maßgeschneiderten Datenanalysen, sowie dem Europol-Verständnis von "operativen Maßnahmen". Bei derartigen Datenabgleichen und -aufbereitungen im Sinne von "Intelligence" handele es sich nach deutschem Verständnis um eine Datenverarbeitung mit belastenden Elementen, die bereits Exekutivcharakter habe und anscheinend die Justiz auf Distanz halten solle. Dazu habe aber selbst der im Sommer 1997 ausgehandelte Amsterdamer Vertrag, der die polizeiliche und strafjustitielle Zusammenarbeit ausgedehnt hat, noch keine Grundlagen geschaffen. Im deutschen Recht gäbe es für die "Serviceleistungen" und Querschnittsanalysen Europols, die Ermittlungscharakter hätten und zu Belastungen von Personen führten, klare Bedingungen; sie seien zudem nur unter Führung eines Staatsanwaltes und unter Beteiligung eines Ermittlungsrichters durchführbar. Das europäische Polizeiamt operiere daher nach wie vor weitgehend in einer juristischen Grauzone.
Vowé weiß, daß die operativen Hilfen seiner Behörde so noch nicht von der Europol-Übereinkunft abgesegnet sind. Trotzdem weist die Europol-Statistik für 1997 bereits 157 "Controlled Deliveries" aus. Insgesamt bearbeitete das Amt vor zwei Jahren 2608 Anfragen, 668 davon aus Deutschland. "Wir arbeiten offiziell unterhalb der justitiellen Rechtshilfe", versuchte Vowé den Senatsbeamten allerdings zu beruhigen. Das führt zu der kuriosen Tatsache, daß die nationalen Ermittlungsstellen die Erkenntnisse der Querschnittsanalysen Europols eigentlich gar nicht verarbeiten und in Gerichtsverfahren verwenden dürfen. "Unsere Ergebnisse müssen auf dem Weg der normalen Rechtshilfeabkommen von den nationalen Strafverfolgungsbehörden nachträglich bestätigt werden", sagt Vowé. Trotzdem sei für die Sicherheitsbehörden zunächst viel Zeit gewonnen, insgesamt könne mit der Hilfe Europols so schneller auf kriminelle Aktivitäten reagiert werden. Bei der Justiz lassen solche, existierende Bestimmungen aushebelnde Vorgehensweisen trotzdem die Alarmglocken schrillen: "Das ist so," urteilt der Mitarbeiter der Berliner Justizverwaltung, "als ob ich eine Tür eintrete und dann den Ermittlungsbeamten sage: Jetzt könnt Ihr machen, was Ihr wollt."
Überwachung nicht zum Nulltarif
Es ist bekannt, daß die internationale Zusammenarbeit der Polizei nicht immer funktioniert und verbesserungswürdig ist. Neuen Verbrechensmethoden muß zudem mit neuen Ermittlungsmethoden begegnet werden. Deswegen wie im Fall Europol aber nationale Strafverfolgungspraktiken und ihre den Bürger vor Verdächtigungen schützenden Regeln weitgehendst über den Haufen zu werfen und einen Polizeistaat bzw. eine -staatengemeinschaft zu gründen, kann nicht die richtige Anwort auf das Organisierte Verbrechen sein. Zumal dem europäischen Steuerzahler für seine eigene Überwachung und "Profilierung" tief in die Tasche gegriffen wird: 1998 belief sich das Europol-Budget auf 9,98 Millionen ECU, in diesem Jahr wird das grenzüberschreitende Datensammeln mit 18,89 Millionen Euro zu Buche schlagen. Viel Geld für den Aufbau einer, so Weichert, "weitgehend gesetzlosen Institution", die nach den Plänen von Storbeck und Vowé längst noch nicht am Ziel ist.