Computerviren und Meme
Hoaxes sind falsche Computerviren, die menschliche Köpfe infizieren
Der Begriff der Meme wurde von Richard Dawkins zunächst in Analogie zu den Genen eingeführt. In seinem bekannten Aufsatz "Viruses of the Mind" verglich er später das Einnisten der Meme in die Köpfe der Menschen mit Computerviren, die ihre Instruktionen in Programme der Wirtscomputer einbauen und sich so vervielfältigen. Jetzt aber gibt es Meme, die unter dem Deckmantel von Computerviren die Menschen infizieren, während sie die Computer verschonen.
Wie man auch dem Newsticker auf dem Heise-Server entnehmen konnte, geistern im Netz immer wieder einige Viren herum, die lediglich ein Gerücht darstellen, sich allerdings aber einer hohen Popularität erfreuen, hartnäckig allen Attacken widerstehen, unter neuen Namen, also mutiert, wiederauferstehen und dementsprechend gut verbreitet werden.
Seit Dezember 1994 gab es einige Aufregungen über einen sogenannten Good Times Virus, dessen Existenz seitdem in Wellen immer wieder einmal beschworen wird und durch Kettenbriefe - Paradebeispiel für Meme - oder Newsgroups weitergereicht wird. Seine Heimtücke und seine Zerstörungskraft seien enorm und würden sogar die bekannten Viren wie Stoned, Airwolf und Michelangelo in den Schatten stellen. Auch große Unternehmen und Regierungsbehörden sind auf den blinden Alarm hereingefallen und waren voller Sorge, sich infizieren zu können.
Neuerdings hat er sogar einen neuen Namen bekommen, weil das Gerücht offenbar mit dem alten nicht mehr recht am Leben zu erhalten ist. Good Times oder Penpall Greetings soll durch Email übertragen werden. Liest man eine Mail mit dem Namen Good Times, dann soll die ganze Festplatte gelöscht oder gar der Prozessor des Computers zerstört werden. Die ursprüngliche Warnung, die das Gerücht verstärkte, war mit einer typischen Memformel verbunden:
"There is a virus on America Online being sent by E-Mail. If you get anything called "Good Times", DON'T read it or download it. It is a virus that will erase your hard drive. Forward this to all yout friends. It may help them a lot."
So also schleicht sich über die Angst vor einer Virusinfektion ein Mem in die Köpfe der Menschen ein, das sich über den Hinweis auf eine gute Tat, wenn man die Botschaft weitergibt, repliziert. Gut und böse hängen, das wußten wir immer schon, zusammen. Mit den besten Absichten und gerade durch sie werden bösartige Infekte am heimtückischsten übertragen, weil die Menschen vor dem Ansturm des unschuldigen Guten ihr kognitives Immunsystem abschalten. Eine Warner im Dienste des Heils der Menschheit glaubte gar, daß der bösartige neue Virus so intelligent sei, daß er sich selbst replizieren könne, indem er Kopien von sich selbständig an weitere Email-Adressen verschickt, die er in einem Mail-Adressenordner findet. Die Angst vor der Ansteckung seines Computers durch einen Virus läßt eben dieses als Trojanisches Pferd in den Kopf eindringen. Gemein!
Schön ist auch der gelungene Gag, daß man die "Good Times"-Botschaft gar nicht lesen und gleich zerstören soll. Das Gute ist kein gutes Gerücht und kein überlebensfähiges Mem. Das Mem hat, ebenfalls wie ein gutes Gerücht, keinen wirklich identifizierbaren Urheber. Irgendein Student oder ein anderer AOL-Nutzer habe ihn geschaffen, sagt die Ursprungslegende. Es stammt vom "Freund eines Freundes".Ein geheimnisvoller Hintergrund, eine schwer zu entdeckende und heimtückisch einschleichende Bedrohung und furchtbare Folgen sind der Stoff, aus dem Meme sich als Viren aufbauen und in die Köpfe der Menschen dringen.
Das Gerücht (Mem) ist überall, in welchen gesellschaftlichen Lebenssphären wir uns auch bewegen. Außerdem ist es das älteste Massenmedium. ... Dennoch weiß man nicht allzuviel über Gerüchte.
Jean-Noel Kapferer
Wie wehrt man sich gegen Meme? Sind Aufklärungsmaßnahmen wie die FAQ über Good Times" wirklich geeignet, das Mem oder das Gerücht zu zerstreuen? Gerüchteforscher sagen, daß auch und gerade Berichtigungen das Leben der Meme verstärken, weil sie diese weiterhin in der Kommunikation halten und die Menschen sowieso nicht recht glauben wollen, was ihnen über Medien als Beruhigungsmaßnahmen zugeht.
Gibt es also einen tieferen Zusammenhang zwischen den Memen und den Computerviren? Sind sie Komplizen? Oder sind sie einander nur dadurch so verwandt, weil wir alle bereits daran glauben, daß unsere Gehirne wie Computer funktionieren. Der Gerüchteforscher Jean-Noel Kapferer macht auf einen fatalen Unterschied aufmerksam.
Es hat sich eingebürgert, das menschliche Denken mit einem Computer zu vergleichen. In bezug auf unser Thema gibt es indes einen grundlegenden Unterschied. Man kann die in einem Computer gespeicherte Information löschen. Die Informationsverarbeitung des Menschen hingegen vollzieht sich kumulativ. Was man einmal gelernt hat, das weiß man (wenigstens für kurze Zeit). Ein Dementi ist also niemals die Löschung einer Information, sondern die Speicherung einer zusätzlichen Information, denn es kann nur Informationen hinzufügen.
Jean-Noel Kapferer
Anschläge, Verschwörungen und geheimnisvolle Agenten sind das Medium der Gerüche und der Meme. Und weil die Memetik aus demselben Stoff gewebt ist, kann sie sich so gut wie Gerücht verbreiten. Das Netz, entblößt von den alten Filtern der Massenmedien, ist das Medium der Gerüchte/Meme, auf dem sie am besten zirkulieren können. Während die Verbreitung von Gerüchten vormals wegen ihrer Bindung an die mündliche Sprache und die Filterfunktionen der Massenmedien nur selten über lokale Regionen hinaus geschehen konnte, hat das "globale Gehirn" die günstigste Ursuppe für rasch weltweit um sich greifende Meme geschaffen.