Corona-Auffrischimpfung für alle?

Seite 3: Wie ist es um den Schutz vor schweren Krankheitsverläufen bestellt?

Aus den Studiendaten geht klar hervor, dass der Schutz vor schweren Erkrankungen nach wie vor hoch ist. Biontech-Pfizer und Moderna berichteten über prozentuale Wirksamkeitsschätzungen in den hohen 90er Prozenten gegen schwere Covid-19-Verläufe nach 6 Monaten. Reale Daten aus Israel, Großbritannien und anderswo deuten darauf hin, dass Impfstoffe sehr wirksam sind, um Menschen vor der Krankenhausaufnahme zu bewahren – selbst wenn die Delta-Variante die Ursache ist.

Covid-19-Impfstoffe wurden weitgehend mit diesem Ziel entwickelt, betonen Forscher. "Es sollte reichen", sagt Ellebedy. Unklar ist jedoch, ob relativ milde Infektionen bei geimpften Personen, die jetzt beobachtet werden, ein Vorbote für einen weiteren Schutzverlust sind, sagt Aldridge. "Ist das ein Frühwarnzeichen? Das wissen wir nicht."

Natalie Dean, Biostatistikerin an der Emory University, sagt, dass bei den Diskussionen über Booster deren steigende Anzahl auch im Hinblick auf die Verbesserung des Schutzes vor verschiedenen Ereignissen betrachtet werden muss. Diese reichen vom Stopp der Übertragung bis zur Verhinderung symptomatischer Infektionen und schwerer Krankheitsverläufe.

In diesem Zusammenhang sehen viele Wissenschaftler das Anbieten von Auffrischimpfungen in den kommenden Monaten als eine schlechte Nutzung der vorhandenen Ressourcen, sowohl auf globaler als auch auf nationaler Ebene, an.

"Eine nur gering verbesserte Wirksamkeit gegen Infektionen rechtfertigt meiner Meinung nach nicht, dass jemand wie ich einen Booster bekommt, wenn jemand anderes nicht einmal eine einzige Dosis erhalten hat", sagt Abu-Raddad.

Dean stimmt zu: "Wir haben einfach keine klaren Beweise für einen ausreichenden Wirksamkeitsverlust, um unseren Fokus zu ändern oder vom Hauptziel abzulenken, nämlich, dass so viele Menschen wie möglich eine erste Dosis erhalten."

Der Mangel an überzeugenden Daten für Booster bedeutet auch, dass Wissenschaftler kein klares Bild davon haben, wer am meisten profitieren würde. Ein großer Teil der Organtransplantationsempfänger, die immunsuppressive Medikamente einnehmen, erzeugt beispielsweise nach zwei Dosen eines Covid-19-Impfstoffs keine hohen Antikörperspiegel.

Eine Studie ergab, dass nur etwa die Hälfte von ihnen nachweisbare Antikörperspiegel produzierte. Es gibt Hinweise darauf, dass eine dritte Dosis diese Titer erhöhen kann, aber bei vielen betroffenen Menschen bleiben sie unter den Werten, die in anderen geimpften Gruppen beobachtet wurden.

Ohne die Festlegung eines Schutzkorrelats ist jedoch nicht klar, welches Niveau für Transplantatempfänger oder Ältere, deren Immunsystem tendenziell weniger robust ist als das Jüngerer, angemessen ist oder wie man ein solches Niveau erreicht, sagt Ellebedy.

Wenn diese Gruppen nach zwei Dosen keine schützenden Immunantworten entwickeln, sagt er, "dann wird die Booster-Immunisierung keine Luxusbehandlung sein, sondern nur Verschwendung von Impfrecourcen."

Was könnte sich noch auf das Boostern auswirken?

Der Anstieg der durch die Delta-Variante verursachten Fälle habe einige Länder dazu veranlasst, sich mit der Auffrischimpfung genauer zu beschäftigen, sagt Subbarao. "Ich denke, alle sind wirklich ziemlich ernüchtert von dem, was mit der Delta-Variante passiert."

Länder, die sich stark auf inaktivierte Virusimpfstoffe verlassen haben, die bei der Verhinderung symptomatischer Infektionen weniger wirksam zu sein scheinen als virale Vektor- und mRNA-Impfstoffe, gehörten zu den ersten, die Booster einsetzten.

Die Vereinigten Arabischen Emirate geben Menschen, die den inaktivierten Virusimpfstoff von Sinopharm erhalten haben, einen Booster mit dem Biontech-Pfizer-Impfstoff, und China plant, im Inland hergestellte mRNA- und proteinbasierte Impfstoffe als Booster für seinen inaktivierten Virusimpfstoff zu verwenden.

Es gibt anekdotische Hinweise auf große Ausbrüche in einigen Ländern, die sowohl inaktivierte Virusimpfstoffe als auch andere Impfstofftypen eingesetzt haben, wie die Seychellen und Chile.

Aber Subbarao sagt, es sei noch nicht klar, ob solche Durchbruchsinfektionen bei Menschen, die die inaktivierten Virusimpfstoffe erhalten haben, wahrscheinlicher sind als bei denen, die andere Impfstoffe erhalten haben, oder ob sie zu schwereren Erkrankungen führen. Für Länder, die beschlossen haben, Menschen, die inaktivierte Virusimpfstoffe erhalten haben, dritte Dosen anzubieten, fügt sie hinzu: "Ich habe die Daten, die zu diesen Entscheidungen führen, nicht gesehen."

Trotz des Mangels an Beweisen, die dafürsprechen, Booster jetzt anzubieten, erwartet Aran, dass die politischen Entscheidungsträger sich auf die Seite der Vorsicht schlagen und in den kommenden Wochen beginnen, Booster für Risikogruppen anzubieten. "Das Risiko ist gering, der Vorteil ist hoch", sagt er.

Nachdem die US-Regierung zunächst die Idee einer dritten Dosis für die meisten Menschen zurückgewiesen hatte, erwägt sie diese nun, so die Nachrichtendienste.

Und am 29. Juli kündigte Israel Pläne an, Menschen über 60 Jahren eine dritte Dosis des Biontech-Pfizer-Impfstoffs zu geben.

Das Vereinigte Königreich hat vorläufige Pläne ausgearbeitet, um ab September Impfstoffe für Personen über 50 sowie für andere Hochrisikogruppen anzubieten.

"Es ist ein Spiel", sagt Aran. "Basiert es auf genügend Beweisen? Ich denke, das ist nicht der Fall".

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin - Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.