Corona: Deutsche sind richtig "mütend"

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Kanzlerin Merkel fordert mehr Kreativität bei der Pandemiebekämpfung. Vorreiter wie Tübingen oder Rostock werden langsam salonfähig

Es sind turbulente Tage vor Ostern. Deutschland ist "mütend". Das ist ein Begriff, der gerade in den sozialen Netzwerken umgeht. "Wir sind müde. Pandemiemüde (mein Unwort des Jahres, aber so treffend). Und wir sind wütend", schrieb eine Ärztin auf Facebook.

"Wir alle müssen den Anspruch haben, Tote und Kranke zu verhindern. Dass das geht, sehen wir. Die Grippe ist dieses Jahr so gut wie ausgestorben- was Abstand, Masken tragen und Hände waschen so alles bewirken."

Aber das politische Rumgeeiere ertrage doch keiner mehr. Ein Ende sei nicht in Sicht. Es fehle ein Konzept, das "alle auch verstehen". Wer sind "alle"?

"Wir (alle) sind das Gesundheitsamt"

Nach einem Mangel an Konzepten sieht es nicht aus. Das Saarland plant weitgehende Lockerungen und will als sogenannte "Modellregion" nach Ostern weitreichende Öffnungen im Gegenzug für Tests ermöglichen. Geplant ist, dass ab dem 6. April unter anderem Kinos, Fitnessstudios und die Außengastronomie wieder öffnen sollen.

In Baden-Württemberg gibt es eine "Corona-Modellstadt": Tübingen. Deren Konzept heißt: "Öffnen mit Sicherheit". Durch den intensiven Einsatz von Schnelltests sollen zusätzliche Öffnungsschritte umsetzbar sein, ohne das Infektionsgeschehen zu verstärken. Das Modellprojekt läuft seit Dienstag letzter Woche bis zum 4. April. Als Regeln werden vom SWR ausgewiesen:

• Wer in Geschäfte, zum Friseur oder zu anderen "körpernahen Dienstleistern" will, der muss nun einen negativen Schnelltest vorweisen. Das gilt im gesamten Stadtgebiet. Außerhalb dürfen Geschäfte selbst testen.

• Außengastronomie und Kulturbetriebe sowie Kinos werden zusätzlich geöffnet - jedoch ebenfalls nur für Menschen, die ein tagesaktuelles negatives Schnelltestergebnis vorweisen können und unter Einhaltung der AHA-Regeln.

• Für die Ausstellung von Testzertifikaten sollen in der Innenstadt Schnellteststationen eingerichtet werden. Angelerntes Personal weist dort die zu testenden Personen an, kostenlose moderne Eigentests anzuwenden, dokumentiert das Ergebnis und gibt ein personalisiertes Zertifikat aus.

Auch in Rostock gibt es seit Ende Februar ein Projekt, mit dem man Modellregion sein will. Das Projekt "Pilot Rostock" fordert, "dass sich alle am Schlüpper reißen": Abstand halten, Maske auf, mehr Corona-Tests, die Luca-App und ein neues Ampelsystem lautet das Konzept, um die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben wieder in Gang zu bringen, berichtete Rostock heute am 23. Februar dieses Jahres.

"Wir (alle) sind das Gesundheitsamt", lautete dazu der Merksatz vom parteilosen Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen.

Das Ampelsystem sieht laut Zeitungsbericht so aus:

Neben der 7-Tage-Inzidenz sollen der R-Wert, der Anteil von Mutationen, die demografische Verteilung, die Zuordnung (Cluster vs. diffus), die Situation in den Krankenhäusern sowie die Auslastung des Gesundheitsamtes jeweils mit einem Wert zwischen 0 (entspannt) und 3 (schwierig) bewertet werden. Ab acht Punkten springt die Ampel auf Gelb, ab 15 auf Rot. Mögliche Konsequenzen lässt das Papier offen.

Rostock heute

Modell-Projekte und Sieben-Tage-Inzidenzen

Seinerzeit, vor etwa vier Wochen, sprach man noch nicht von einer "neuen Pandemie", aber die Befürchtung einer dritten Welle durch die Virusmutation B 1.1.7, die laut R.K.I. in Deutschland nun gut 71 Prozent bei den überprüften Tests ausmacht, war schon präsent. Man werde nicht bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von unter 35 bleiben, prognostizierte Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen damals, da lag die Inzidenz in Rostock bei 24,9.

Derzeit liegt sie laut aktueller Fallzahlen bei 31,1.

Für die Stadt Tübingen sind solche Kennzahlen nicht so leicht erhältlich. Leicht einzusehen sind die Zahlen für den Landkreis Tübingen und der liegt bei 65,2. Das ist kein besonders schöner Modellwert. Das RKI weise sogar eine Sieben-Tage-Inzidenz für den Landkreis Tübingen von 149 aus, berichtet der Münchner Merkur.

Karl Lauterbach führt für den gestrigen Mittwoch eine Sieben-Tage-Inzidenz von "70,4 für Tübingen" an und kommentiert dazu: "Auch Tübingen schafft es nicht."

Oberbürgermeister und Modellversuchschef Boris Palmer und die Tübinger Pandemiebeauftragte Lisa Federle reagierten laut dpa verärgert:

Karl Lauterbach kennt den Unterschied zwischen dem Landkreis Tübingen und der Universitätsstadt Tübingen nicht. Als Rheinländer sei ihm das verziehen, aber seine These beruht auf den falschen Zahlen. Der Anstieg der Inzidenz im Landkreis Tübingen findet bisher in der Stadt Tübingen nicht statt.

Boris Palmer (Grüne)

Die Pandemiebeauftragte Federle erklärte dazu, dass sich die 7-Tage-Inzidenz in der Stadt Tübingen seit zwei Wochen in einem Korridor zwischen 20 und 30 bewege. Der Anstieg der Inzidenz im Landkreis Tübingen gehe auf Ausbrüche an Schulen und Kitas außerhalb des Stadtgebiets zurück.

Die Irritation ist bemerkenswert. Wem ist zu glauben?

In ihrer heutigen Regierungserklärung rückte die Kanzlerin die beiden Städte Tübingen und Rostock in ein gutes Licht, nachdem kein kleiner Teil der Berichterstattung monatelang die Experimente von Boris Palmer als eher gefährlich dargestellt und in die Nähe von Verantwortungslosigkeit gerückt hatte.

"Es ist keinem Bürgermeister und keinem Landrat verwehrt, das zu tun, was in Tübingen und Rostock gemacht wird", sagte Merkel. Der Bund werde immer unterstützend tätig sein. Am Ende zähle die Wirkung. Es sei notwendig, bei der Bewältigung der Corona-Pandemie mehr Kreativität zu zeigen. Nur nichts zu tun, das dürfe nicht geschehen, erklärte die Kanzlerin.

Tagesschau

Auch Markus Söder will jetzt in Bayern "Tübingen plus" machen.