Corona? Doch nicht auf unseren Spargelfeldern!
Seite 2: Feldarbeit ist mitunter eine anspruchsvolle und qualifizierte Tätigkeit
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- Feldarbeit ist mitunter eine anspruchsvolle und qualifizierte Tätigkeit
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Aber Feldarbeit ist nicht nur ein Knochenjob, sondern in einigen Fällen eine anspruchsvolle und qualifizierte Tätigkeit: geübte "Erntehelfer" sind bei einer Bezahlung nach Menge in der Lage, auf 20 Euro in der Stunde zu kommen.
Die Mitarbeiterinnen von "Open Med" berichten, die häufigsten Symptome der Besucherinnen und Besucher seien Bluthochdruck und Erkrankungen des Bewegungsapparats. Oft entstehen die gesundheitlichen Probleme durch die Doppelbelastung durch harte körperliche Arbeit und mangelhafte Versorgung andererseits. Viele gehen lange nicht zu einem Arzt, was die Probleme verschlimmert und Krankheiten chronisch werden lässt.
Wie etwa der 48 Jahre alte B., der auf einem Obsthof in Niedersachsen beschäftigt ist, allerdings ohne Arbeitsvertrag. Für sieben Euro 20 in der Stunde pflückt er Kirschen und schneidet die Bäume zu.
Er muss blutverdünnende Medikamente einnehmen, die ihm Bekannte aus seinem Heimatland mitbringen. In der Sprechstunde berichtet er, dass er unter Nackenschmerzen leidet, aber sich eine Behandlung nicht leisten könne. Die Ärzte vermuten einen Bandscheibenvorfall.
Seit Anfang dieses Jahres müssen die Arbeitgeber in der Landwirtschaft nachweisen, dass eine Krankenversicherung besteht. "Für Saisonbeschäftigte sorgen wir für den vollen Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Arbeitstag", heißt es etwas vollmundig im Koalitionsvertrag.
Allerdings umgehen die Betriebe diese Versicherungspflicht durch Gruppen- oder Kollektivversicherungen privater Anbieter. Die "Erntehelferversicherungen" kosten viel weniger als die Gesetzliche Krankenversicherung, bieten dafür allerdings auch viel weniger. In einem Artikel in der Wochenzeitung Freitag nennt Nelli Tügel einige Beispiele:
Der Anbieter "Klemmer" etwa wirbt mit 0,43 Cent pro Tag pro Beschäftigtem für Betriebe, die bis zu 30 Saisonarbeiter*innen angestellt haben. In den Policen sind etliche Ausnahmen vom Versicherungsschutz festgehalten, so die Behandlung von chronischen Krankheiten und deren Folgen, die Behandlung von "vor Versicherungsbeginn entstandenen Krankheiten, Beschwerden, Unfällen, Schwangerschaften etc.", die Behandlung von Krankheiten oder Unfällen, die im Zusammenhang mit Alkoholgenuss stehen, die Behandlung der Folgen von HIV/Aids, von Selbstmordversuchsfolgen sowie alle Arten von Vorsorgeuntersuchungen. Ein Anbieter schließt die Behandlung von "Ansteckungskrankheiten" aus, "die ggf. erst bei einer unmittelbar mit der Einreise durchgeführten Untersuchung festgestellt werden".
Koalitionsvertrag verspricht mehr Kontrolle
An diesem Zustand wollen nun weder das Bundesarbeitsministerium noch das Bundeslandwirtschaftsministerium etwas ändern. Auch die im Koalitionsvertrag angekündigte verstärkte Kontrolle – "Strukturelle und systematische Verstöße gegen Arbeitsrecht und Arbeitsschutz verhindern wir durch effektivere Rechtsdurchsetzung" – ist bisher nicht konkret geworden.
Für die Saisonarbeit gilt das gleiche wie für die Arbeitsmarktpolitik der Regierung insgesamt. Die neoliberalen Reformen der Vergangenheit sollen beibehalten, aber etwas stärker reguliert werden. Gewisse "Auswüchse" sollen eingedämmt werden, die Strukturen bleiben gleich.
Schuld an den Zuständen in der Landarbeit sind nicht (nur) gierige deutsche Unternehmer. Die Betriebe stehen in einem scharfen Wettbewerb mit dem (europäischen) Ausland, die vollen Zugang zum einheimischen Markt haben, obwohl sich die Regeln für Arbeitsschutz und Mindestlöhne extrem unterscheiden.
Beispielsweise beträgt der Mindestlohn in Polen umgerechnet knapp vier Euro, damit etwa ein Drittel des deutschen. Einheitliche Regelungen innerhalb der Europäischen Union zu Löhnen und Arbeitsschutz sind nicht in Sicht. Die Überausbeutung in der Erntearbeit entsteht aus dem Kostendruck der Erzeuger, die selbst unter dem Dach der großen Lebensmittelkonzerne und Handelsketten stehen.
Allerdings fällt es den landwirtschaftlichen Betrieben immer schwerer, genügend hilfreiche Hände zu finden. Früher kamen Erntearbeiterinnen und -arbeiter in der Regel aus Polen, aber seitdem die Löhne dort gestiegen sind, ist Saisonarbeit in Deutschland nicht mehr attraktiv.
Die Rolle der Polen übernahmen Rumänen, aber auch dieses Reservoir billiger Arbeitskraft beginnt allmählich auszutrocknen. Die Politik bemüht sich deswegen seit Jahren, neue Gebiete zu erschließen.
Seit 2016 gilt die sogenannte Westbalkanregelung, die die Arbeitsmigration aus Albanien, Serbien und dem Kosovo ermöglicht. Die Bundesanstalt für Arbeit verhandelte außerdem Abkommen mit den "Drittstaaten" Georgien und Moldawien.
Beschäftigte aus Drittstaaten verlieren ihre Aufenthaltserlaubnis, wenn sie keine Arbeitsstelle mehr haben. Entsprechend abhängig sind sie von ihren Arbeitgebern. Dennoch zeigen auch sie sich immer weniger duldsam. So protestierten ukrainische Erntearbeiter im Sommer 2021 selbstbewusst gegen vorenthaltene Löhne und die schlechte Unterbringung. Auch in Bornheim bei Bonn wehrten sich damals Spargelstecherinnen aus Rumänien.
Die Kräfteverhältnisse in der Landwirtschaft beginnen sich zu verschieben, auch aufgrund des relativen Mangels an Arbeitskraft. Bisher haben die Drittstaaten Georgien und Moldawien weniger Kräfte schicken als erwartet.
Die Hoffnungen der Landwirte richten sich nun auf die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Ob die sich allerdings so billig und genügsam zeigen werden wie Saisonkräfte früher, ist fraglich.