Corona-Jahresausblick
Die aktuellen Infiziertenzahlen und damit die Werte für die Todesfälle und Intensivpatienten sind besorgniserregend
Gut drei Wochen vor Jahresende sind alle Fakten und Prognosen zur Corona-Pandemie besorgniserregend. Die Sieben-Tage-Inzidenz der Fallzahlen liegt deutschlandweit bei 160. Höchststände weisen ebenfalls die Quote der Neuinfizierten pro Test und die Positiv-Rate mit Werten von jeweils mehr als zehn Prozent wöchentlich aus (Neuinfizierte pro Test - eine zweite Maßzahl als Ergänzung zu R).
Neben diesen Maßzahlen sind auch die drei wichtigsten Kenngrößen im roten Bereich. Die Summe der Infizierten beträgt aktuell 1,2 Millionen und Ende des Jahres etwa 1,7 Millionen. Die Todesfälle werden von zur Zeit 20.000 rasant auf 30.000 ansteigen sowie die Zahl der Intensivpatienten von 4.200 auf über 4.600.
Deutschland hat ab Anfang November versucht, mit mäßigen Restriktionen die ansteigenden Corona-Kenngrößen (Infizierte, Todesfälle, Belegung Intensivbetten) zu reduzieren. Dabei waren die Maßnahmen deutlich schwächer als bei der ersten Welle ab März 2020. Wie damals waren die Beschränkungen in den anderen großen europäischen Ländern – Frankreich, Spanien, Italien und teilweise Großbritannien – auch dieses Mal wieder erheblich stärker und wurden meist frühzeitiger beschlossen als in Deutschland. Allerdings hat Deutschland die Pandemie bisher insgesamt (noch) vergleichsweise besser in den Griff bekommen.
Dieses Mal hat jedoch der aktuelle Teil-Lockdown bei uns nur eine geringe Bremswirkung gezeigt. Die neben der Reproduktionszahl wichtigste Maßzahl ist die Positiv-Rate, die den Anteil der positiven Tests bezogen auf die Gesamtzahl der Tests misst. Fast zahlenmäßig gleichwertig ist der Anteil der Neuinfizierten bezogen auf die Menge aller Tests innerhalb einer Woche (NIT-Wert). Diese Maßzahl beträgt seit der 46. Kalenderwoche, das heißt seit nunmehr schon über vier Wochen, etwa 9.5 Prozent und liegt damit eindeutig im roten Bereich. Diese Bewertungen haben wir durch entsprechende Analysen für viele Länder im letzten halben Jahr gut justieren können.
Nach Veröffentlichung der neuen Testzahlen durch das Robert-Koch-Institut am 9. Dezember 2020 hat sich der NIT-Wert für die 50. Kalenderwoche sogar deutlich auf zehn Prozent (Positiv-Rate 10,25 Prozent) gesteigert. Erschwerend kommt hinzu, dass man seit der 46. Kalenderwoche die Teststrategie dahingehend verändert hat, dass nunmehr fast nur symptomatische Fälle getestet werden. Dadurch hat sich die Anzahl der wöchentlichen Tests um 200.000 bis 300.000 reduziert. Da die Zahl der Infizierten trotzdem nahezu stabil geblieben ist, haben sich der NIT-Wert und die Positiv-Rate erhöht.
Wenn man bei den nicht durchgeführten Tests ähnliche Verhältnisse zugrunde legt, sind dadurch pro Woche etwa 24.000 und pro Tag etwa 3400 Infizierte weniger festgestellt und damit nicht isoliert worden. Selbst wenn man eine wesentlich geringere Positiv-Rate von sechs Prozent für diese Fälle unterstellen würde, sind das immerhin noch 2.000 nicht entdeckte Infizierte pro Tag.
Als Begründung für die Änderung der Teststrategie wurde angegeben, dass die Labore bei 1,6 Millionen Tests pro Woche zu stark beansprucht würden. Dagegen steht, dass durch die nicht identifizierten Infizierten eine versteckte Erhöhung der Fallzahlen eingetreten ist, weil diese Personen nicht isoliert worden sind. Zudem wird in den oben erwähnten vier großen europäischen Ländern anteilsmäßig mehr getestet. Wie man es dreht und wendet, sind die aktuellen Infiziertenzahlen und damit die Werte für die Todesfälle und Intensivpatienten besorgniserregend.
Der NIT-Wert von 9,5 Prozent ist ziemlich genau so hoch wie in der ersten Welle. Im Zusammenhang mit der ersten Welle wurden 200.000 Infizierte registriert. Da unsere Modellprognose für das Jahresende in der Summe etwa 1,7 Millionen ergibt, ist die zweite Welle mit dann 1,5 Millionen sehr viel höher und damit kritischer.
Seit Anfang November bewegen sich die Wochensummen für die Infizierten stabil zwischen 123.000 und 134.000 und bisher ohne Abwärtstendenz. Das bedeutet deutschlandweit eine Sieben-Tage-Inzidenz über 150. Damit ist man weit von dem Ziel von 50 entfernt, bei dem noch eine hinreichende Kontaktnachverfolgung möglich scheint. Stand 7. Dezember 2020 haben auch 93 Prozent der Städte und Landkreise und alle Bundesländer einen über dieser wichtigen Marke liegenden Inzidenzwert. Dieser würde für Deutschland wöchentlich 42.000 bzw. täglich im Mittel 6.000 Infizierte bedeuten.
Da die Zahl der Todesfälle einen Nachlauf von etwa zwei bis drei Wochen zu den Infizierten aufweist, ist hier natürlich keine Entspannung in Sicht. Vielmehr werden zur Zeit immer wieder neue Wochen- und Tageshöchststände beobachtet. Selbst wenn die Infizierten jetzt aktuell in der 50. Kalenderwoche zurückgehen würden, sollten die Todesfälle noch bis Ende des Jahres ihre Dynamik beibehalten. So kommt die Modellvorhersage folgerichtig für das Jahresende auf einen Prognosewert von über 30.000.
Dazu sollte man erwähnen, dass die erste Welle etwa 9.000 Todesopfer gefordert hatte. Auch bei den Todesfällen verläuft die zweite Welle ungleich heftiger und befindet sich ebenfalls im roten Bereich.
Die Belegungszahlen auf den Intensivstationen steigen ebenfalls weiter von momentan 4.200 auf mindestens 4.600 am Jahresende. Das sind über 50 Prozent mehr als bei der ersten Welle und stellt die Krankenhäuser vor allem wegen des schon früher knappen Fachpersonals vor große Herausforderungen.
In anderen EU-Staaten haben schärferen Maßnahmen gewirkt
Mitte bis Ende November haben die Infiziertenzahlen ihr Maximum erreicht und danach auch die Zeitreihen der Todesfälle. Dieses ist ein klarer Hinweis, dass man in Deutschland die Restriktionen schnellstens deutlich verstärken sollte.
Insbesondere sollten die angekündigten Lockerungen für Weihnachten sofort zurück genommen werden. Dieses ist ein enges Familienfest, das häufig drei Generationen für mehrere Tage gemeinsam feiern. Für die weitere Ausbreitung des Virus ist das ein idealer Nährboden. Ähnliches gilt auch für Silvester-Partys, wobei dort eher Gleichaltrige in lockerer Gesellschaft zusammen sind.
Neben den Wochenenden kommen damit zusätzlich durch die vielen Feiertage mit weniger Tests und verspäteten Meldungen eventuell geringere Zahlen in die Öffentlichkeit, so dass eine echte Bilanz erst ab der zweiten Januarwoche gezogen werden kann. Dann kann man überprüfen, ob es bei den Fallzahlen einen Weihnachtseffekt gibt.
Die Prognosen sollten für die weitere Risikoabschätzung der Corona-Entwicklung verwendet werden. Dabei ist es sinnvoll, erreichbare Ziele zu formulieren. Nach unseren Erfahrungen sollte man den NIT-Wert zunächst in den gelben Bereich unter sechs Prozent bringen. Das bedeutet bei einer weiterhin konstanten Teststrategie von gut 1,3 Millionen Tests pro Woche etwa eine Wochensumme von 78.000 Infizierten oder ein Tagesmittel von 11.000.
Diese Vorgabe ist mit weiteren Anstrengungen, insbesondere strikten Kontaktreduzierungen in der letzten Jahreswoche, wohl noch im Januar zu schaffen. Damit würde man – zeitlich verzögert – die Todesfälle und die Belegungen der Intensivbetten spürbar verringern. Die von Politikern und Medizinern angestrebte Sieben-Tage-Inzidenz von 50 für Deutschland erfordert einen weiteren Rückgang der Infiziertenzahlen auf 42.000 pro Woche bzw. 6.000 pro Tag und dürfte ohne zusätzliche Maßnahmen erst Anfang Februar erreicht werden.
Diese Beschreibung stellt ein mittleres Szenario dar. Wenn man die Entwicklung schneller in den Griff bekommen möchte, bleibt nur ein echter Lockdown in den beiden ersten Januarwochen, zumal dann günstige Rahmenbedingungen vorliegen, weil Kitas und Schulen Weihnachtsferien haben und Wirtschaft und Behörden ebenfalls noch eingeschränkt arbeiten.
Wesentlich effektiver wäre natürlich schon ein Beginn des harten Lockdowns kurz vor Weihnachten, um den Schub durch die letzte Woche des Jahres abzumildern. Allerdings mit einer klaren Ansage, über Weihnachten die Kontakte massiv einzuschränken. Dazu braucht es von Seiten der Politik vor allem Einigkeit und Tatkraft, von Seiten der Bevölkerung Vernunft und von allen Gruppen die Einsicht, dass nur gemeinsam diese seit Jahrzehnten größte Belastung für unsere Gesellschaft eingedämmt werden kann.
Die nun erfolgenden Impfungen werden erst im Sommer oder Herbst wesentliche Wirkung zeigen. Aber schon jetzt könnten sie eine psychologische Hilfe sein und unsere Stimmung in diesen trüben Wintertagen aufhellen.
Prof. Dr. Walter Mohr
Studium der Mathematik und Wirtschaftswissenschaften, Lehr- und Forschungstätigkeiten an Fachhochschulen und Universitäten mit über 50 Veröffentlichungen, insbesondere in den Bereichen Zeitreihenanalyse und Wirtschafts- und Wahlprognosen sowie medizinischen Qualitätsuntersuchungen (eHealth).
Dr. Frank W. Püschel
Studium der Mathematik und Wirtschaftswissenschaften, Lehrtätigkeiten im Hochschulbereich, Forschungsschwerpunkt auf den Gebieten der Zeitreihenanalyse und Wirtschaftsprognosen. Aktuell tätig in der Geschäftsführung eines Medizinprodukteherstellers.