Corona-Journalismus: Schlechte Argumente schaden der Aufklärung

Der Turm des Schifffahrtsfunkfeuers erhebt sich aus dem dichten Nebel.

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In der Journalismuskritik ist viel von Qualität die Rede. Doch was ist eigentlich journalistische Qualität? Eine Analyse der Orientierungsangebote zur Corona-Krise.

Qualität ist zunächst wertungsfrei eine messbare Eigenschaft. Oft wird aber gleich ein ganzes Bündel solcher Eigenschaften genommen und als Qualität bezeichnet, was eine sachgerechte Bewertung erschwert.

Zur Verwirrung kommt hinzu, dass im täglichen Sprachgebrauch "Qualität" oft schon für "gute" bzw. "hohe" Qualität steht (was sogar nach der entsprechenden ISO zulässig ist).

Dabei ist es für die Medienkritik wichtig, zwischen der Qualitätsmessung (Eigenschaftsbestimmung) und einer nachfolgenden Bewertung der Messung zu unterscheiden. In manchen Bereichen liegt die Wertung auf der Hand: Ein in seiner Kernaussage falscher Artikel wird immer als mangelhaft anzusehen sein.

Anders ist es beispielsweise bei der Stilistik: Sind kurze Sätze automatisch besser als lange? Viele Qualitätsstudien setzen das so an, aber Mediennutzer dürfen es auch ganz anders empfinden. Sind mehr Informationen in einem Beitrag immer positiv, oder wird es irgendwann auch unübersichtlich, werden vielleicht Nebensächlichkeiten dabei zu stark betont?

Worum es bei Qualität jedenfalls nicht geht

Worum es bei Qualität jedenfalls nicht geht, das ist persönlicher Geschmack. Denn der ist keine Eigenschaft des Produkts, sondern eine Zuschreibung des Kunden, die sich aus allem möglichen speisen kann.

Entsprechend kann journalistische Medienkritik auch nicht auf Vorlieben und Abneigungen des Rezensenten abstellen, denn die sind für seine Leser, Hörer oder Zuschauer wiederum völlig belanglos.

Maßstab Orientierungsangebot

Ein sinnvolles Maß ist das Orientierungsangebot, welches ein Artikel oder Rundfunkbeitrag macht. Denn damit lassen sich zahlreiche Eigenschaften vermessen. Was der Orientierung dienen kann, wird dann positiv bewertet, was ihre entgegensteht – wie Unvollständigkeiten oder gar Falschbehauptungen – negativ.

Eine insgesamt und so auch im Corona-Journalismus nur wenig betrachtete Qualitätsdimension ist die Argumentation, also die Darstellung von Tatsachen und Meinungen in einer Form, die eine eigene (summarische) Aussage bildet.

Argumentationsdefizite zeigen sich in der Regel an Aussagen, die mit weiteren Fragen konfrontiert keine Orientierung (mehr) geben.

Argumentationslücken

Zum Einstieg sei auf eine ausführliche Textkritik einer Spiegel-Meldung aus dem November 2022 verwiesen, die Aussagen des Gesundheitsministers Karl Lauterbach zusammenfasst und mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

So wendet sich Lauterbach darin gegen geplante "Lockerungen" der Corona-Maßnahmen in einzelnen Bundesländern mit Verweis "auf rund tausend Menschen, die pro Woche mit dem Coronavirus sterben und eine unerwartet hohe Übersterblichkeit im Oktober".

Journalistisch wäre bei dieser Argumentation zu prüfen, warum es trotz der von Lauterbach für notwendig gehaltenen Maßnahmen zu wöchentlich tausend Toten kommt. Daran schließt sich die Frage an, was das unvermeidliche Maß an Corona-Toten ist, das auch mit politischen Maßnahmen nicht unterschritten werden kann.

Im Original-Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk hatte Lauterbach zu seinem Festhalten an der Maskenpflicht im Fernverkehr gesagt:

Nicht jeder kann sich jetzt durch eine Impfung perfekt schützen, da muss einfach nochmal Rücksicht aufeinander genommen werden.

Karl Lauterbach, November 2022

Auch hier wäre die Argumentation zu hinterfragen: Wieso nur jetzt "nochmal" – später demnach aber nicht mehr? Kann sich zwar nicht derzeit, aber später "jeder (...) durch eine Impfung perfekt schützen"?

Auch Journalisten argumentieren

Die Argumentation von Protagonisten der Berichterstattung zu hinterfragen, gehört zur Recherche. Die wäre manchmal auch hilfreich, wenn es die Journalisten selbst sind, die in ihren Nachrichten argumentieren. Ein Beispiel:

"AfD-Politiker lag drei Wochen mit Corona im künstlichen Koma", vermeldete n-tv am 18.04.2023 und argumentierte zur Relevanz der Nachricht wie folgt:

Die staatlichen Schutzmaßnahmen hält der 55-Jährige im Rückblick dennoch für unangemessen, wie er erneut deutlich machte. Einen Widerspruch sieht er darin nicht.

n-tv

Doch warum sollte jemand, der schwer an Covid-19 erkrankt war, automatisch die "staatlichen Schutzmaßnahmen" für angemessen halten? Die Betroffenen selbst wurden dadurch ja gerade nicht (hinreichend) geschützt.

Auch die Möglichkeit, etwas auf eigenes Risiko tun zu wollen, scheint n-tv auszuschließen. Dabei muss auch ein krebskranker Raucher keineswegs für die Tabak-Prohibition eintreten (und sich damit zum Opfer externer Mächte statt seiner eigenen Konsumlust machen).

Rückschaufehler

Die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt argumentiert in einem Text, die heutige Kritik an der Corona-Politik basiere auf dem sogenannten "Rückschaufehler".

Der bedeutet, dass heutiges Wissen und Verständnis zur Beurteilung früherer Geschehnisse genutzt wird, ohne darauf zu achten, was damals noch gar nicht bekannt war.

Wenn man heute also zu dem berechtigten Schluss kommt, dass die Schulschließungen einfach nur eine Katastrophe für die Kinder in diesem Land waren und dass man sie niemals hätte zulassen dürfen, dann übersieht man dabei, wie groß die Unsicherheit im März 2020 war. Wie hilflos man damals war, als es nicht einmal Masken gab und Impfungen schon gar nicht. (...)

Und wenn man heute mit Empörung von der Diskriminierung von Ungeimpften im Winter 2021/22 spricht, dann vergisst man, wie elend die Folgen der Corona-Wellen damals, vor Omikron, waren, wie gut Impfungen noch gegen Infektionen schützten und wie gefährlich der Erreger noch war.

Nur wegen dieses Rückschaufehlers kann es zur Umdeutung der Pandemie kommen, die gerade stattfindet. Aus heutiger Perspektive, da man immunisiert auf das zahmer gewordene Coronavirus blicken kann, konstruiert man, dass man nie Angst vor diesem Erreger hätte haben müssen.

Aber es ist wie bei den Erwachsenen, die betonen, dass sie als Kind auch ohne Fahrradhelm und Sicherheitsgut gut durchs Leben gekommen sind: Sagen können das eben nur diejenigen, die nicht gestorben sind.

Christina Berndt, Süddeutsche Zeitung

Der Verweis auf den Rückschaufehler ist völlig richtig – wird aber oft nach persönlichem argumentativem Belieben zugelassen oder abgewiesen. Denn er greift bei allen Beurteilungen der Historie, prominent derzeit bei moralischen Bewertungen unserer Vorfahren und unserer Vergangenheit, man denke an Kolonialismus, Frauenbild, Sexualmoral, Ostpolitik.

Für den Rückblick auf die journalistischen Leistungen wären daher zunächst zwei Bereiche zu klären: Was damals tatsächlich außerhalb der Erkenntnismöglichkeiten lag und wo erkennbare Unsicherheiten nicht in die Bewertung einbezogen wurden.

Denn es gibt einen Unterschied zwischen "etwas nicht wissen" und der bloßen Behauptung, etwas sei unbekannt.

Und Nichtwissen an sich bietet gerade noch keine Legitimation für Handlungen. Man kann in ausweglos erscheinenden Situationen etwas probieren, ohne zu wissen, wozu es führen wird – muss sich aber des Risikos bewusst sein.

Für den Journalismus bedeutet es, die möglichen Folgen zu recherchieren. Es gibt in komplexen Systemen keine Handlung ohne Nebenwirkungen. Neben dem Gewollten entsteht auch immer Ungewolltes.

Da es vom ersten Tag an Warnungen zu allen dann ergriffenen Maßnahmen der Virusbekämpfung gab, wäre zu klären, ob der Journalismus diesen hinreichend nachgegangen ist, und ob er seine Rechercheergebnisse auch veröffentlicht hat.

"Vorschaufehler"

In der Argumentation von Christina Berndt fehlt ferner die Differenzierung. Kinder galten von Anfang an nicht als besonders gefährdet. Es konnte also nur darum gehen, wie weit sie für den Schutz anderer in Anspruch genommen werden dürfen – unterstellt, dass es diese Schutzwirkung dann überhaupt gibt.

Und soweit diese Schutzwirkung noch unklar ist, gehören alle Szenarien in die Abwägung. Das ist unterblieben, und man könnte dies analog einen "Vorschaufehler" nennen: Es wurde eine Wirkung unterstellt, die noch gar nicht bewiesen war und die es, wie sich später herausstellen sollte, nicht im unterstellten Maße gab.

Mit ihrem Beispiel vom Fahrradhelm hat Berndt einen Punkt. Allerdings gehört zur Orientierung gebenden Argumentation, diesen Blick auch zuungunsten der eigenen Position einzunehmen.

Zwar wird kaum ein Kind direkt wegen eines Fahrradhelms auf dem Kopf sterben (wobei man auch dafür sicherlich Fälle finden oder zumindest konstruieren kann). Aber wenn wir den heute üblichen Fahrradhelm bei Kindern mal als Symbol für eine gesteigerte Sorge um Sicherheit interpretieren, lassen sich schon auch gefährliche Nebenwirkungen finden.

Wer als Kind viel tobt, riskiert Verletzungen, doch wer nicht tobt, riskiert später schwerere bis tödliche Verletzungen z. B. bei einem Sturz, weil notwendige Reaktionen nicht trainiert wurden. Die Neigung zu riskantem Verhalten vor allem männlicher Jugendlicher wird kein Fehler der Evolution sein.

Freiheit wird zum Privileg

Journalismus sollte weder manipulativ noch unzulässig vereinfachend argumentieren. Und das verlangt zunächst, das Thema selbst ausreichend durchdrungen zu haben.

Ein Musterfall, der weit über die Corona-Situation Bedeutung hat, war die Debatte um "Sonderrechte für Geimpfte". Am 28.12.2020 hieß es in einem Kommentar:

Richtig ist: Solange nicht jeder erwachsene Mensch selbst entscheiden kann, wann er sich gegen eine Corona-Infektion impfen lassen möchte, darf es keine Vorzugsrechte für Geimpfte geben.

Das aber ist noch nicht der Fall. Wo der Impfstoff nur in Mini-Dosen unters Volk gebracht werden kann, ist ungleiche und ungerechte Verteilung die Konsequenz. Viele werden noch monatelang warten müssen.

Von Zufällen oder einem zu geringen Lebensalter aber darf es nicht abhängen, wer im kommenden Jahr wieder eine Kneipe betreten, die Eltern in der Klinik besuchen oder uneingeschränkt seinem Beruf nachgehen kann.

Bis ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht, müssen gleiche Rechte für alle gelten, oder anders ausgedrückt: gleiche Einschränkungen für alle.

Constanze von Bullion, Süddeutsche Zeitung

Ignorieren wir an dieser Stelle mal die Fachfrage des Fremdschutzes durch eine Corona-Impfung und nehmen die Vermutung als gegeben an, die sich in den 2G- und 3G-Regeln ausdrückte.

So oder so ging es jedenfalls nicht um "Vorzugsrechte" bzw. laut Überschrift "Privilegien" für Geimpfte, sondern stets nur um die Frage, mit welcher Legitimation Freiheitsrechte beschränkt werden dürfen.

Wenn also die Impfung die gewünschte, weil für sinnvoll gehaltene Mitwirkung des Einzelnen war, dann spielte für seine Rückerlangung der Freiheit keine Rolle, ob andere noch keine Möglichkeit zur Impfung hatten. Die schräge Argumentation der SZ-Autorin, die sich ähnlich in vielen Medien fand, offenbart eine gefährliche und vor Corona unbekannte Relativierung von Grundrechten.

Freiheit nur situativ wichtig

Unlauter ist eine Argumentation, wenn ihr der Sprecher selbst nicht konsequent folgt. Zum großen Stichwort "Freiheit" ist dies bei vielen Journalisten zu beobachten, vergleicht man ihre Äußerungen zu Corona mit denen zum Ukraine-Krieg.

Denn unter dem Eindruck der Pandemie galt vielen, Leben stehe in jedem Fall über der Freiheit. "Jeder Covid-Kranke ist einer zu viel", kommentierte Christina Berndt im Dezember 2020 und griff damit auf, was viele Politiker schon über Monate zuvor gesagt hatten. Die Botschaft: Freiheit muss gegenüber dem Gesundheitsschutz zurücktreten.

Im Ukraine-Krieg hingegen werden Mahnungen zum Lebensschutz schnell diskreditiert, hier kann die Freiheit nicht hoch genug gewertet werden. Friedrich Merz zum Grundsatzprogramm der CDU: "Freiheit ist für uns wichtiger als Frieden" – denn Frieden gebe es auf jedem Friedhof.

Ebenso äußerte sich der frühere Bundesinnen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière – in seiner Funktion als Präsident des Evangelischen Kirchentags:

Natürlich verlängert eine Waffenlieferung das Töten und Sterben. Wenn man das ablehnt, muss man sich aber im Klaren sein, dass der Preis dafür wahrscheinlich Unfreiheit ist.

Thomas de Maizière

Anlässlich der Pandemie wollte de Maizière Freiheit hingegen nicht so wichtig nehmen und forderte eine Grundgesetzänderung, um den Ausnahmezustand erklären zu können.

Solche Inkonsistenzen muss Journalismus herausarbeiten. Denn je nach Wetterlage einmal hü und einmal hott zu sagen, schafft das Gegenteil von Orientierung.

Journalismus ist ein Filter zwischen der Realität und der öffentlichen Wahrnehmung der Realität.

David Schraven, Correctiv

Filtern im Sinne von Sortierung nach Wichtigem und Unwichtigen ist sicherlich ein Kerngeschäft des Journalismus. Zu den wichtigen Dingen gehört dabei, Argumentationen zu hinterfragen und auf Widersprüche hinzuweisen.