Maßstäbe der Medien: Politiker nach Belieben kritisieren?

Journalistin in einem Konfernezraum beim Notieren

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Berichterstattung: Werden Kriterien und Faktenauswahl nach Gutdünken erhoben? Orientierung wird so nicht geboten. Fallbeispiele und Analyse.

In den USA hat der künftige Präsident Trump eine weitere umstrittene Personalentscheidung angekündigt. Demnach soll Robert F. Kennedy jun. Gesundheitsminister werden.

Der 70-Jährige, der keine wissenschaftliche Ausbildung für das Gesundheitsressort hat, gilt als Impfgegner. Vor allem während der Corona-Pandemie sorgte er mit seinen Verschwörungstheorien für Befremden. Der Senat muss der umstrittenen Nominierung noch zustimmen. Kennedy ist der Neffe des früheren demokratischen Präsidenten John F. Kennedy.

heute-journal, 15. November 2024

In dieser Meldung steckt keine offensichtliche Meinung; dafür gibt es aber zahlreiche Tatsachenbehauptungen, für die es an einem erkennbaren Maßstab für ihre Relevanz fehlt. Und diese Tatsachenbehauptungen dürften wesentlich zur Meinungsbildung beim Publikum beitragen.

Maßstäbe für "umstritten"?

Das beginnt mit dem gleich zweimal verwendeten Adjektiv "umstritten". Denn kein Politiker wird je unumstritten sein, schon nicht im eigenen Lager, erst recht im gesamten Politikbetrieb, der Bevölkerung oder unter Fachleuten des entsprechenden politischen Themengebiets.

Es wäre daher auch in einer kurzen Meldung anzugeben, in welchen Gruppen jemand umstritten ist – und dass ihn dies signifikant von anderen Politikern unterscheidet.

Grundlage für Zuschreibungen?

Dann wird Kennedy als Impfgegner bezeichnet. Vielleicht, damit sich das heute-journal nicht festlegen muss, was genau ein Impfgegner ist, gibt es als Pseudo-Quelle ein "gilt als" an. Es fehlt wiederum der Maßstab: Ab wann ist es wichtig zu wissen, als was jemand (irgendwo) gilt? Zumal es sicherlich noch weit mehr Zuschreibungen für eine so bekannte Persönlichkeit gibt.

Ebenso verhält es sich mit den wiederum nicht einmal mit einem Beispiel belegten "Verschwörungstheorien", die irgendwo für "Befremden" sorgten. Jede auch rein sachliche Position kann bei Menschen mit gänzlich anderer Ansicht Befremden auslösen.

Nach dem Maßstab ist auch zu fragen bei allem, was nicht benannt wird: Hat ein 70-jähriger Politiker aus einer bekannten Familie sonst nichts vorzuweisen, gibt es über ihn sonst nichts zu wissen?

Die fachliche Qualifikation

Besonderes Augenmerk verlangt aber die Einordnung seiner fachlichen Qualifikation, zu der wir erfahren, er bringe "keine wissenschaftliche Ausbildung für das Gesundheitsressort" mit.

Seit wann ist diese bei Ministern relevant? Nicht nur, dass auch deutsche Gesundheitsminister meist fachfremd waren (Jens Spahn als Bankkaufmann, Hermann Gröhe als Rechtsanwalt, Daniel Bahr als Volkswirt, Ulla Schmidt als Lehrerin etc.). Die Themenfelder eines Ministeriums sind meist so groß, dass quasi jede Ausbildung und Berufserfahrung irgendetwas beitragen könnte.

So überdeckte der mediale Jubel im Dezember 2021 zur Amtsübernahme von Karl Lauterbach als studiertem Mediziner und Gesundheitsökonom, dass Gesundheit wesentlich mehr als ärztliche Versorgung verlangt. Vielleicht wäre, wenn man schon Fachkunde verlangt, eher jemand aus dem Pflegebereich in Betracht gekommen, mit viel Patientenkontakt?

Die Zeit beginnt einen langen, kritischen Rückblick auf die dreijährige Amtszeit Lauterbachs, nachdem sie darauf verweist, "selbst politische Widersacher" lobten sein Wissen und Lauterbach sei "ein echter Fachminister":

Vielleicht ist also die entscheidende Frage, ob das Gesundheitswesen in Deutschland einen Brückenbauer braucht oder einen Besserwisser.

Zeit

Der erzählerische Rahmen für Qualifikation

In manchen Bereichen wie dem Verteidigungsministerium wird geradezu Fachfremdheit erwartet. Es soll gerade nicht von einem hohen Militär geführt werden. Auch ohne die Erfahrung des Grundwehrdienstes konnte man es leiten, wie nicht nur die drei unmittelbaren Vorgängerinnen von Boris Pistorius zeigen, sondern auch Peter Struck (Verteidigungsminister von 2002 bis 2005) oder Volker Rühe (1992 bis 1998).

Nach welchem Maßstab wird also vom heute-journal die fehlende "wissenschaftliche Ausbildung für das Gesundheitsressort" benannt?

Nicht selten wird eine formale Qualifikation genau dann thematisiert, wenn es in die eigene Erzählung passt. Dauerpräsent ist hier die Bezeichnung von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck als "Kinderbuchautor".

Das greift sowohl von dessen publizistischem Schaffen als auch von der "wissenschaftlichen Ausbildung" her deutlich zu kurz. Habeck ist promovierter Literaturwissenschaftler. Und sollte er als ehemals selbständiger Künstler formal weniger geeignet sein als etwa ein ehemaliger Unternehmer, wären auch hierfür die Maßstäbe zu benennen.

Ohne weitere Angaben sollte man hingegen davon ausgehen dürfen, dass sich die Qualifikation von Politikern in ihrer Politik zeigt. Die ist schließlich gerade etwas anderes als Wissenschaft.

Uneinheitliche Auswahl von Nachrichten und Einzelinformationen

Das Verschweigen von Maßstäben ist in der Berichterstattung allgegenwärtig. Als vor den US-Wahlen unter anderem die Washington Post und die Los Angeles Times auf eine klare Wahlempfehlung verzichteten, wurde dies in vielen deutschen Medien als Rückgratlosigkeit und unzulässige Einmischung der (reichen) Eigentümer eingeordnet.

Obwohl es in Deutschland gänzlich unüblich ist, dass sich eine ganze Zeitung für einen Kandidaten ausspricht (und der öffentlich-rechtliche Rundfunk dies gar nicht tun dürfte). Als Bevormundung der Leser, Zuschauer und Hörer würde dies vermutlich kritisiert.

Welche Promis oder Unternehmen den Social-Media-Dienst X verlassen, welche neu dazu kommen und wie das bei anderen Plattformen aussieht – die Berichterstattung wirkt im günstigsten Fall beliebig. Im ungünstigeren Falle wirkt die uneinheitliche Auswahl von Nachrichten und Einzelinformationen verzerrend.

Der private Lebenswandel von Politikern

Ein beliebtes Medienthema ohne jeden Maßstab für Relevanz und Bewertung ist auch stets der private Lebenswandel von Politikern. Ob links sein könne, wer gut Geld verdient, wird dann etwa im Hinblick auf Sahra Wagenknecht gefragt, ohne zu benennen, ab welchem Wohlstand es mit der Vertretung des Volkes oder der Vertretung des Sozialismus vorbei ist. (Schließlich verdienen alle Bundespolitiker überdurchschnittlich.)

Gerade genügte es vielen deutschen Medien, den designierten US-Gesundheitsminister Kennedy nochmal ins Programm zu heben, weil er auf einem Flug Fast-Food gegessen hat.

Formal ist der Aufhänger natürlich eine Variation der Meldung "das Netz lacht über...". Doch auch für den gibt es keinen erkennbaren Maßstab. Schließlich spottet das Netz viel und in jede Richtung.

Wer genau darf nichts von McDonald's und Co essen, ohne dass es berechtigterweise medial relevant wird? Nur (angehende) Gesundheitsminister? Oder auch Journalisten, die über Gesundheitsthemen schreiben?

Kennedys Figur jedenfalls kann nicht der Maßstab gewesen sein.