Corona-Maßnahmen: Fehlende inhaltliche Auseinandersetzung
- Corona-Maßnahmen: Fehlende inhaltliche Auseinandersetzung
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- Ein Staatsstreich für ein Jahr?
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Die Angst vor der Außerkraftsetzung von Schutz- und Grundrechten, die Angst vor einer Selbstentmächtigung des parlamentarischen Systems ist mindestens genauso berechtigt wie die Angst vor Corona
In den letzten Wochen wurde heftig über die Maßnahmen, die die Pandemie eindämmen sollen, gestritten. Sind sie gerechtfertigt, maßvoll, alternativlos? Oder übertrieben, unnötig und haben gar nichts mit dem Schutz der Gesundheit zu tun? An dieser (Gesundheits-)Front kommen große Kaliber zum Einsatz: Da ist von "Querfront", von "Verschwörungstheorien" die Rede. Auf der anderen Seite wird vor einer "Hygiene-Diktatur", einem "Ausnahmezustand" gewarnt. Höchste Zeit also, um eine Expedition entlang der Schlagworte zu unternehmen.
Das (regierungsnahe) Lager vereint alle Parteien im Bundestag, ob als Regierungs- oder als Oppositionspartei. Es reicht von der Partei DIE LINKE, über die SPD, die CSU/CDU bis hin zur AfD.
Diesem steht ein Lager gegenüber, das diese Maßnahmen für "unverhältnismäßig" hält und als einen Angriff auf die Schutzrechte gegenüber dem Staat anklagt. Es hat keine parlamentarische Stimme, ist nicht im Parlament vertreten. Dieses Lager erhebt seine Stimme unter den Bedingungen eines Ausnahmezustandes, auf der Straße und in den nicht-monopolisierten Medien.
Dazu gehören auch "Demonstrationen", unter Einhaltung des Abstandsgebots, mit Schutzmasken, unter Bedingungen, die den Sinn einer Demonstration ad absurdum führen: Mal dürfen es nur 20 Personen, die sich namentlich erfassen lassen müssen, mal darf nicht einmal ein Demonstrant alleine seine Meinung (mittels Plakat) kundtun. Diese handverlesenen "Demonstrationen", wenn man sich daran nicht gewöhnen will, sind keine Demonstrationen der TeilnehmerInnen, sondern eine Demonstration der Polizeigewalt, der Staatsgewalt. Mittlerweile versammeln sich auch Tausende, missachten das Abstandsgebot, drängen sich aneinander, ohne Mundschutz - und die Polizei sieht zu.
Während das erste Lager die Maßnahmen im Großen und Ganzen rechtfertigt und sich gegenseitig für die Handlungsfähigkeit des Staates lobt, sucht das andere Lager nach Begrifflichkeiten, nach der Qualifizierung eines Zustandes, der eben nicht der Normalzustand ist. Es kursieren Begriffe wie "Ausnahmezustand", "Hygienediktatur", "Ende der Demokratie" bis hin zum "Staatsstreich".
Das bringt das erste Lager in Wallung - über alle Parteigrenzen hinweg: Sie werfen ihnen vor, "Verschwörungstheorien" zu verbreiten. Das ist nicht besonders originell und auch ziemlich langweilig. Der zweite Allrounder-Vorwurf besteht darin, den Unangepassten vorzuwerfen, dass sie eine "Querfront" bilden würden. Auch das gehört mittlerweile zum Standardrepertoire.
Dieser Vorwurf macht die Auseinandersetzung mit der vorgetragenen Kritik zur Nebensache. Das "Argument" ist die Kontaktschuld, also mit wem "zusammen" dieser Protest artikuliert wird. So werden regelmäßig die handverlesenen "Demonstrationen" gescannt, um festzustellen, dass sich dort auch Neonazis, Reichsbürger & Co. aufgehalten haben.
Damit ist die Auseinandersetzung um den Inhalt der Kritik vom Tisch. Der Vorwurf, eine "Querfront" zu bilden, entbehrt in diesem Zusammenhang nicht einer besonderen Ironie: Bei der Suche nach "Gründen", diesen Protest zu diskreditieren, arbeiten Regierungs- und Oppositionsparteien, staatsloyale Medien und Linke (ob als Antifa oder als antirassistische Gruppierung) zusammen. Die Frage, ob ein solches Zusammenspiel (-wirken) nicht genauso die Kriterien einer "Querfront" erfüllt, stellen sich diese Koalitionäre nicht.
Wenn man dieses Pressschlag-Argument beiseitelässt, dann geht es um etwas wirklich Essenzielles: Mit dem Vorwurf "Verschwörungstheorie" und "Querfront" will man vor allem eine Sache aus dem Weg räumen: Die dringende Notwendigkeit, sich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen.
Es geht um die sehr grundsätzliche Frage, ob die Grundrechte zum Schutz von Gesundheit und Leben lästig sind, also zurücktreten müssen oder ob die Gesundheit nur mit der "Unversehrtheit" der Grundrechte zu verteidigen ist.
Grundrechte vs. Gesundheitsrechte
Die Wirksamkeit und die Wahrung von Schutzrechten ist ein wesentliches Merkmal, das eine (bürgerlichen) Demokratie von einer Diktatur unterscheidet. Wer diese Demokratie will, wer dies unentwegt betont (zumindest bei Feierlichkeiten und beim Geburtstag des Grundgesetzes), der muss sich diesen Fragen stellen und Antworten geben - anstatt das Flatterband "Verschwörungstheorie" um diese Angelegenheit zu spannen.
- Was ist an dem Vorwurf dran, dass die Einschränkung/Suspendierung von Grundrechten nicht der Pandemiebekämpfung dient, sondern der weiteren Aushöhlung von Schutzrechten gegenüber dem Staat?
- Wurde die Pandemie als Vorwand genutzt, die schwindenden Kontrollrechte gegenüber der Exekutive weiter einzuschränken?
- Was bedeutet es, wenn die wenigen Stimmen, die sich dazu äußern, stumm geschaltet werden, im öffentlich-rechtlich-privaten Diskurs gar nicht vorkommen - und wenn nur als Aussätzige?
- Was ist vom Vorwurf des "Staatsstreiches" zu halten? Sind damit die massiven Verschiebungen im institutionellen Gefüge (Exekutive/Legislative/Judikative) genau beschrieben?
Es verdient großen Respekt, dass Thomas Moser dazu einen sehr guten und lehrreichen Beitrag geschrieben hat, der dabei helfen kann, "die Geisterspiele" um die und inmitten der Linken zu beenden. Was hat es also mit dem Vorwurf der massiven Demontage von Grundrechten auf sich? Dazu schreibt Thomas Moser auf Telepolis:
Der 25. März 2020 war ein schwarzer Tag für die BRD-Demokratie. Corona bedingt standen im Bundestag zwei wesentliche Gesetze sowie die eigene Geschäftsordnung zur Abstimmung. Einmal das Gesetz zum Nachtragshaushalt für die Finanzierung des Notzustandes in Höhe von zusätzlichen 122 Milliarden Euro. Zum zweiten die Änderung des Infektionsschutzgesetzes, in dem festgelegt wurde, wer im Falle einer "Epidemie von nationaler Tragweite" das Sagen hat.
Die quasi hoheitliche Feststellung, dass eine epidemische Lage existiere, oblag zunächst noch dem Parlament. Doch dann übertrug es per Gesetz dem Bundesgesundheitsminister nicht nur das weitere exekutive Handeln, sondern auch die legislative Möglichkeit, das eben beschlossene Gesetz selber wieder zu ändern und Maßnahmen per Verordnungen ohne Beteiligung des Bundesrates zu verhängen. Damit hat der Bundestag am 25. März 2020 seine eigene Entmachtung beschlossen. (…) Im Bundestag stimmte am 25. März eine seltene Front aller Fraktionen von Linkspartei bis AfD den beiden wesentlichen Corona-Gesetzen zu. Eine Politik, die die AfD ausgrenzt, ist das nicht, sondern im Gegenteil eine, die sie integriert.
Wenn also Vertreter und UnterstützerInnen der Corona-Regierung den KritikerInnen vorwerfen, sie würden Verschwörungstheorien verbreiten, dann inszenieren sie selbst jene "obskuren, dunklen Mächte", um vom Offensichtlichen abzulenken: Was in diesen Corona-Tagen passiert, ist keiner "dunklen Hand" geschuldet. Das parlamentarische System selbst ist der Ort des Geschehens. Es hat sich selbst entmächtigt. Thomas Moser kommentiert:
Kontrollfreiheit ist das, was das Corona-Recht ermöglicht hat. Und sie haben danach gegriffen: die Regierenden, die institutionelle Opposition, die etablierten Medien. Hier haben nicht etwa heimlich konspirative Absprachen stattgefunden, sondern sind lediglich ähnliche Interessenlagen und Dispositionen zusammengefallen.
Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Mitherausgeber der Zeitschrift Ossietzky, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis:
Auch die parlamentarische Demokratie leidet unter der "Corona-Krise": Die Opposition scheint lahmgelegt, die demokratische Kontrolle ist ausgehebelt. Die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes, auf das u.a. die Kontaktverbotsmaßnahmen gestützt werden, erfolgte im Schnellverfahren - ohne Experten-Anhörungen und ohne Politikfolgenabschätzung, obwohl es sich doch um Maßnahmen von großer Tragweite handelt.
Auf dieser neuen gesetzlichen Grundlage kann nun der Bundestag befristet die sogenannte epidemische Lage von nationaler Tragweite ausrufen, sobald eine "ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit" festgestellt wird - mit der Folge, dass weitreichende Macht- und Entscheidungsbefugnisse vom Parlament auf den Gesundheitsminister übertragen werden. Diesen Gesundheitsnotstand hat der Bundestag gleich nach der Gesetzesnovellierung Ende März 2020 öffentlich deklariert. Damit wird das Bundesministerium für Gesundheit befristet bis zum 1. April 2021 ermächtigt, unbeschadet der Befugnisse der Bundesländer Anordnung oder Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrates zu erlassen.
(…) Darüber hinaus ist der Bundesgesundheitsminister gemäß Infektionsschutzgesetz ermächtigt, Ausnahmen von geltenden Gesetzen zu verfügen. Mit solchen Regelungen wird die verfassungsrechtliche Bindung der Regierung an Gesetze unterlaufen. Solche Blanko-Ermächtigungen der Bundes-Exekutive ohne parlamentarische Kontrolle und Ländermitwirkung (Bundesrat) unterminieren die Verfassungsgrundsätze der Gewaltenteilung und des Föderalismus, weshalb diese Ermächtigungsnormen nach Auffassung etlicher Verfassungsrechtler* innen verfassungswidrig sein dürften.