Corona-Maßnahmen: Wie weit geht die Polizei?
In Belgien fällt ein Polizeieinsatz gegen feiernde Jugendliche "absolut unverhältnismäßig" aus. In Deutschland fürchtet man, dass die Akzeptanz der polizeilichen und politischen Maßnahmen gesunken ist
Das Video zum Polizeieinsatz in Brüssel zeigt eindeutige Bilder: Ein berittener Polizeitrupp wirft eine Frau zu Boden. Sie stand zuvor, mit großem Abstand zu anderen allein auf einer Wiese, machte keine provakanten Gesten, sondern schaute, beschäftigt mit ihrer Hose, in die falsche Richtung.
Nachdem sie das Pferd, gelenkt von einem Polizisten, umgerammt hatte, blieb sie regungslos liegen. Die Polizisten auf den Pferden ritten ungerührt weiter. Geht es nach den Videobildern machte der Trupp keine Anstalten, unmittelbar nach diesem Geschehen umzukehren. Ob das dann mit einigen Minuten Verspätung geschah, gibt der Clip nicht zu erkennen.
Er zeigt den Anfang eines Polzeieinsatzes mit Hunden, Wasserwerfern, stürmenden Polizisten und teilweise tanzenden Menschen und darauffolgenden Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und hauptsächlich Jugendlichen auf einem größeren Gelände, dem Brüsseler Stadtwald: Bois de la Cambre.
Das Video stammt vom Donnerstag, dem 1. April. Autor Eric Bonse, der aus Brüssel berichtet, auch an dieser Stelle, war "zufällig Zeuge der Jagdszenen", die mit Tränengas und Wasserwerfern Tausende Jugendliche aus dem Bois vertrieben. "Der Polizeieinsatz erinnerte an den G-20-Gipfel in Hamburg - mit Hubschrauber, Drohnen, berittener Polizei, Polizeihunden und Hundertschaften, die in Kampfmonitur gegen friedliche Jugendliche aufzogen", so sein Eindruck der surrealen Szenen, die zu auch Deutschland und der EU zu denken geben sollten.
Ich habe im Bois de la Cambre keine "Querdenker" oder AfD-ler gesehen, sondern ganz normale Kinder und Jugendliche, die für ein paar Stunden dem belgischen COVID-Gefängnis entfliehen wollten. Und ich habe eine Polizei gesehen, die sich wenig um rechtliche Probleme schert - und stattdessen ohne zu zögern auf ihre eigenen Kinder einprügelt. - Ist Belgien noch ein Rechtsstaat? Diese Frage stellt sich aktuell nicht nur den Belgiern - sondern allen hier lebenden EU-Bürgern (wie mir) und der ganzen EU.
Eric Bonse
Gegenwärtig ist Belgien in einer kritischen Situation. Die Corona-Fallzahlen steigen zwar aktuell langsamer als in den Wochen zuvor, so die Zeitung La Libre heute. Aber 3.025 Covid-Patienten in den Krankenhäusern gehören zu den höchsten Werte seit Anfang Dezember. Während der vergangenen Woche wurden durchschnittlich 274 Patienten wegen einer Corona-Infektion hospitalisiert, das sei auf die Woche gerechnet eine Steigerung von 19 Prozent.
In Belgien sind 801 Covid-Erkrankte auf Intensivstationen, gestern zählte man in Deutschland 3.838 solcher Fälle. Zur Einordnung: Belgien hat knapp 12 Millionen Einwohner, Deutschland rund 83 Millionen.
Den besonderen Fall Belgien macht auch Eric Bonse geltend. Die Jugendlichen hätten sich unvernünftig verhalten, schreibt er. Doch stehe das in keinem Verhältnis zum Einsatz der Polizei, der "absolut unverhältnismäßig" ausfiel.
Nun gehört zur belgischen Besonderheit auch, dass die belgische Regierung besonders drastische Maßnahmen ergriffen - nicht notwendige Ein- und Ausreisen sind beispielsweise verboten. Auch soziale Kontakte sind weitgehend verboten hat -, und ein Gericht befand, "dass die Corona-Einschränkungen in Belgien unrechtmäßig seien - es fehlt die Rechtsgrundlage".
Übliche Rhetorik
Zum Fall der Frau äußern sich Politik und Polizei in der üblichen Rhetorik. Sie läuft darauf hinaus, dass die Frau den Platz hätte rechtzeitig räumen sollen. Die Polizei vor Ort sei in verschiedenen Stufen vorgegangen, man habe die Menschen aufgefordert, den Platz zu räumen. Stärkere Mittel seien erst angewendet worden, als die Jugendliche begonnen hätten, Projektile auf die Polizei zu werfen. Zum konkreten Fall der Frau wollte sich Innenministerin Annelies Verlinden noch nicht genauer äußern. Das Video, so die Polizei, zeige nur einen Ausschnitt des Geschehens.
Der Videoausschnitt, der nicht von privater Hand stammt, sondern von Journalisten eines Senders, vermittelt allerdings auch in anderen Bildern den Eindruck, dass die Polizei nicht gerade defensiv und sachte, sondern mit einiger Aggression auf die bis dato friedliche Menge losgelaufen ist.
Wie sieht das "Mindset" einer Exekutive aus, das mit einem solchen Aktionismus gegen Jugendliche vorgeht, die nicht auf einer Demo im schwarzen Block auf eine Auseinandersetzung mit der Polizei aus sind, sondern sich - bis zum Auftauchen der Ordnungsmacht - friedlich unter freiem Himmel versammelt haben, weil sie die Maßnahmen nicht mehr aushalten?
Dazu eine Stellungnahme des Kollektivs L'Abîme, das zu Festen gegen die Maßnahmen aufruft.
Junge Menschen haben die Nase voll von sozialen Einschränkungen, sie sind am Ende ihrer Kräfte. Psychologen und Psychiater schlagen schon seit Monaten Alarm. Ende Januar ergab eine Studie der UCLouvain und UAntwerpen, dass jeder zweite Belgier, vor allem junge Menschen, in psychischer Not ist. Unsere Jugend, der Motor von morgen, ist am Rande des Zusammenbruchs.
collectif 'L'Abîme
"Wir haben nichts Schlechtes gemacht"
"Wir haben nichts Schlechtes gemacht - doch man präsentiert uns, als hätten wir ein Terrorattentat organisiert. So weit sind wir schon gekommen", zitiert Eric Bonse den anonymen Sprecher des Kollektivs. In Brüssel werde vermutet, dass es sich um Leute aus dem Nachtleben handelt. Auch am gestrigen Freitag setzte sich das Fest fort, mit etwas weniger Teilnehmern.
Eine wichtige Frage, die sich mit steigenden Temperaturen und dem Vorhaben, Maßnahmen zu verschärfen, noch deutlicher aufdrängen wird - und nicht nur in Belgien -, wird sein, zu welchen Mitteln die Polizei greifen wird und wie sie von der Politik unterstützt werden wird?
In Frankreich, wo man zu strikteren Maßnahmen zurückgekehrt ist, werden Aussagen laut, die eine Radarüberwachung von Autos fordern, um zu erkennen und zu bestrafen, wer im falschen Département herumfährt.
In Deutschland stellt Bodo Pfalzgraf von der Berliner DPolG-Polizeigewerkschaft der Welt gegenüber fest, dass die Durchsetzung der Ausgangsbeschränkungen, die sich gerade wieder häufen, nicht leicht werde:
"Die Akzeptanz der polizeilichen und politischen Maßnahmen ist in der Bevölkerung gegenüber dem ersten Lockdown geschwunden."
Laut einer YouGov-Umfrage sprachen sich angesichts steigender Infektionszahlen 56 Prozent der Befragten dafür aus, nächtliche Ausgangsbeschränkungen bundesweit zu ergreifen. 37 sind dagegen, 7 Prozent machten keine Angaben. Je älter die Befragten, desto größer sind die Sympathien für Ausgangsbeschränkungen.